Der Mann ist weg

Eines Tages, es war an einem der ersten lauen Frühlingstage Ende Februar, ging ich die Treppen zu meiner Wohnung hoch und er war einfach da. Er stand vor der Türe, mit einem Koffer und einem alten Strohhut in der Hand, nickte mir freundlich zu und ging mit in die Wohnung, ohne ein Wort zu sagen. Er legte den Hut auf die Garderobe, ging durch den Flur in mein Schlafzimmer, als kannte er den Weg, stellte den Koffer neben das Bett und dann ging er nicht mehr weg. Seit jenem Tag ist der Mann da.

Wenn ich morgens aufwache, ist es hell, die Sonne scheint durch die Fenster, der Tag hat sich auf dem Boden ausgebreitet. Der Mann schläft. Ich gehe duschen und koche Kaffee, die Kaffeemaschine und ich sind leise, wir dürfen ihn nicht wecken. Ich ziehe mich an, nehme den Kaffeebecher, lehne mich im Schlafzimmer an den Türrahmen, trinke den Kaffee und sehe zwischen den Kissen und Decken seinen Brustkorb, der sich unter der Decke hebt und senkt, und sein friedliches, schlafendes Gesicht. Manchmal wünschte ich, ein wenig von seiner Ruhe mitzunehmen, dann drehe ich mich leise um, stelle den Kaffeebecher ab, ziehe meine Schuhe an und sachte die Tür hinter mir zu.

Manchmal ruft er mich an, wenn er aufwacht, und sagt kleine Sachen. Wie es mir ginge, ob über mir die Sonne schiene, welche Musik ich hörte, und dass mein Kaffee immer noch viel zu stark sei. Er findet sich zurecht, er weiß das, und ich weiß das. Manchmal geht er spazieren und füttert die Hunde des Nachbarn, manchmal ruft er gegen Abend noch einmal an und sagt, ich solle zu einem U-Bahnhof am anderen Ende der Stadt kommen.

Er wartet nie auf mich. Er ist einfach immer da, wo ich bin.

Da sein. Ich habe nie verstanden, woran man das merkt. Dass jemand da ist. Dass jemand einen Platz hat im eigenen Leben. Als der Mann da ist, beginne ich zu verstehen, dass es nicht die großen Dinge sind, die sich ändern müssen. Weil es die Kleinigkeiten sind, die einem den Atem rauben. Die Kleinigkeiten, die so winzig sind, dass man sie alleine gar nicht allein bemerken kann. Für die es jemand anderen braucht, der sie einem zeigt.

Der Mann ist gut in Kleinigkeiten.

Manchmal ist sein da-Sein, dass ich nach Hause komme und der Briefkasten ist leer, das Bett gemacht, die Weingläser sind gespült, eine Erdbeere fehlt. Im Flur stehen seine Schuhe, auf dem Bett liegt sein Laptop, im Bad seine Zahnbürste, auf einem Stuhl sein Hemd, all seine Sachen, die immer noch so fremd sind, die machen, dass auf einmal alles mehr ist als sonst. Mehr als vorher, in der Zeit ohne ihn. Am Klavier sind die Noten umgeblättert, im Aschenbecher die Reste einer fremden Zigarettenmarke, im Bett eine Decke mehr. Manchmal ist es ein gelber Zettel auf dem Küchentisch, eine Nachricht zwischen seinem Gehen und meinem Heimkommen, ich sammle die Zettel in einer kleinen Kiste, damit ich sie nicht verliere. Manchmal ist sein da-Sein, dass ich nach Hause komme, ohne einen Schlüssel zu brauchen, dann lehnt er im Flur und nimmt mich in den Arm und ich vergesse alles andere auf dieser Welt.

Weil er so da ist.

Mein Leben fängt an, sich zu teilen in die Zeit vor dem Mann und die Zeit mit ihm. Ich hatte nie gedacht, dass das so einfach geht, dass man nicht mehr alleine, sondern zu zweit ist, und dass dann nichts und doch alles anders ist. Der Mann hat sein Leben mitgebracht und es an meines gelegt und alles ist gut, wie es ist. Und keiner von uns möchte fragen, wo das hinführen wird.

Ich zeige ihm die Häuser und die Leute, mein Gestern und mein Heute und die Straßen meiner Stadt. Die großen Regenpfützen, die grünen Parkwiesen, die grauen Hochhäuser, die schönsten Plätze für Sonnenuntergänge. Der Mann spricht nicht viel. Wenn er reden will, sieht er mir in die Augen und seine Blicke erzählen ohne Worte. Und wenn ich nachts nicht schlafen kann, legt er sich neben mich und erzählt mir die Geschichten, die nur die Reisenden kennen. Er streicht mir mit der Hand übers Haar, bis die Sorgen aus meinem Kopf fallen und sich in der Dunkelheit auflösen. Manchmal atmet er nur leise und wartet, bis mein Herz nicht mehr so schnell klopft.

So vergehen sie, die Tage, Nächte, Jahreszeiten. Sie haben uns nie um Erlaubnis fürs Vergehen gefragt, und schon ist ein Jahr vorüber, und die Zeit, die noch Zukunft war, als er vor meiner Tür stand, ist plötzlich Vergangenheit geworden.

Die Zeit hat die Blicke des Mannes verändert. Sie erzählen keine Geschichten mehr. Sie irren durch die Räume, sehen durch mich hindurch, an mir vorbei, kreisen um Ideen wie Punkte an der Wand und bleiben an seinem Koffer hängen. An dem Koffer, der immer noch an der selben Stelle im Flur steht, an der er ihn einst abstellte. Seine Blicke wandern, und er sagt es nicht laut. Doch ich habe verstanden. Und ich weiß, dass er gehen muss.

Er wird gehen, und ich werde ihn vergessen. So einfach ist das.

Eines Abends dann weiß ich, dass es der letzte Abend ist. An diesem Abend fühlt alles sich an wie ein kleines Ende. Meine Augen wollen jeden Moment greifen, alles festhalten, was doch verweht, meine Hände noch einmal alles fühlen, was am Ende doch vergeht. Als ich am Morgen erwache, ist der Mann noch da, er schläft, ich sehe nur seine Haarspitzen zwischen den Kissen, seinen Körper unter den Decken.

Als ich am Abend nach Hause komme, ist er verschwunden.

Sein Koffer ist weg, der Hut liegt nicht mehr auf der Garderobe, er steht nicht in der Küche, ist hinter keiner Tür versteckt. Nur kleine Spuren sind von ihm geblieben: Das Bett ist zerwühlt, daneben zwei Weingläser mit trockenen Weinspuren, der Abdruck seines Laptops auf dem Sessel. Die Zahnbürste ist weg, und in seinen Schuhen ist er aus dem Haus gegangen.

Ich gehe durch alle Räume wie auf der Suche nach einem Hinweis, den es nicht gibt, nach einem Wort, das nirgends steht. Ich öffne die Fenster und sehe hinaus, keine Bewegung draußen, nirgendwo ein Schatten auf dem Asphalt, nichts Bekanntes in der Luft, nur das Geräusch von Glas, das in Mülltonnen fällt, und das Lärmen eines Streits im Haus gegenüber. Dann öffnet sich quietschend unten im Hof eine Tür, ich sehe aufgeregt hinaus, und es ist nur der Hausmeister.

Ich hatte nie gedacht, dass das so einfach geht, dass man nicht mehr zu zweit, sondern allein ist, und dass dann nichts und doch alles anders ist. Es ist der Tag, an dem der Mann weg ist. Und der Tag, an dem meine Zeitrechnung wieder neu beginnt.

So gehen die Tage ins Land, und ich gehe nirgendwo mehr hin. Niemals schließe ich die Fenster, in der Hoffnung, dass alles, was von ihm noch blieb, eines Nachts endlich verschwinden möge. Wieder und wieder gehe ich durch die Zimmer, die so leer sind ohne ihn, und doch so voll sind von ihm. In allen Räumen klingt seine Musik nach, der Duft seines Haargels klebt in allen Türrahmen, sein Fingerabdruck bleibt auf seiner Kaffeetasse, egal, wie oft ich sie spüle. Ich lege mich ins Bett, das zu groß ist, und koche Kaffee, der zu viel und zu stark ist. Sehe Filme, die alleine nicht zu ertragen sind, lese die Geschichten, die ohne seine Stimme im leeren Raum verhallen. Ich lege mich hin, kann nicht schlafen, stehe auf, laufe im Kreis, versuche ein Lächeln für mein Spiegelbild, gehe die Treppen auf und ab, bis mein Herz rast, lehne mich an die Wohnungstür, vermesse die Länge der Wohnung in Schritten, Füßen, Armlängen. Ich trage die Erinnerung unter meiner Haut, die Nächte ohne Alleinsein an jeder Stelle in meinem Körper, sein Lachen auf meinen Händen, seine Geschichten in meinen Ohren. Ich übe das Vergessen. Und ich lerne das Scheitern. Er wird gehen. Und ich werde ihn vergessen. So einfach ist das — nicht.

Ich versuche eine Ablenkung, einen Strohhalm, der mich vielleicht aus meinem Versinken in der Einsamkeit rettet. Ich gehe in Bars, ertränke das Alleinsein in Alkohol, viel später an diesen Abenden lerne ich Männer kennen und gehe mit in ihre Wohnungen. Morgens sitze ich in U-Bahnen, in denen ich zurück nach Hause fahre, und trage einen Schmerz im linken Brustkorb, einen schalen Geschmack im Mund, eine pochende Frage im Kopf. Ich öffne meine Wohnungstür, er ist immer noch nicht gegangen, etwas von ihm ist immer noch geblieben, und immer noch finde ich auf dem Bett ein schwarzes Haar.

Ich ertrinke in diesem Bett, meine Konturen verlaufen, verschwimmen, verschwinden. Ich kann nur noch liegen und die Maserung der Tapete betrachten. Leise sein. Keine Musik hören. Keine Bewegung ertragen. Den Vögeln beim Vorbeifliegen zusehen. Eine Stechmücke töten. Einer Freude nachsehen, als sie am Horizont verschwindet. Einem Glück zum Abschied winken. Es dreht sich nicht um. Gedanken verschwimmen, bevor sie im Bewusstsein ankommen. Das letzte Gefühl hallt durch einen leeren Körper und brennt sich auf den Herzkammerwänden ein. Langsam sterben. Was uns nicht gleich umbringt, tötet auf Raten.

Wochen später wache ich auf. Die Spuren auf dem Dielenboden sagen, dass ich viel zu lange im Kreis lief. Ich habe keine Kraft mehr, keine Idee, wie es nun weitergeht. Ich weiß nur, dass die Wohnung viel zu klein ist für uns beide, zu klein für das, was von ihm blieb und für das, was von mir blieb. Ich muss raus aus dieser Stadt, muss dahin, wo er nie sein wird, einen anderen Schatten sehen als den seinen auf allen Wegen. Ich nehme ein paar Sachen aus dem Schrank, mein letztes Geld aus der Spardose, meine Reisetasche vom Dachboden. Ich öffne die Tasche, darin liegt ein kleiner gelber Zettel. Beschrieben in einer Handschrift, die ich kenne.

Reisende soll man aufhalten.

By L.

I walk fast.

26 comments

  1. Einer der lyrischsten, tiefsten, denkfütterndsten Texte die ich im web1.0 und 2.0 je lesen durfte.

    Und ein denkwrdiges Kompliment für mich als Gesellschaftsteil Mann, trotzdem.

    chapeau.

  2. Vielen Dank für diese wunderschoene …. kurze Erzaehlung!…. Vielen lieben Dank

    Volker

  3. Wundervoll! Lese hier seit einer Weile mit und finde deine Texte immer wieder traumhaft aber das ist mein bisheriges Highlight. Danke und mach bitte weiter so. 🙂

  4. Tief(er)greifend! Diese Geschichte ging mir durch Mark und Bein.
    Man wünscht sich gerne ein Happy-End und weiß eben nicht wirklich: Was ist ein gutes Ende. Das spürt man nur selbst im tiefsten inneren…wenn aber nur Traurigkeit zurück bleibt, dann würde ich auch sagen: “Reisende soll man aufhalten.”

  5. Wunderschön. Als ich die Geschichte zum ersten mal ganz las, brachen beim letzten Wort die Gefühle aus mir heraus, wie eine Sturmflut. Ich konnte nichts dagegen machen… Danke!

  6. Bin gerade durch Zufall auf diesen Blog gestoßen – und ich bin sehr froh. Das war eine sehr berührende Geschichte, Miel. Wow…
    Ich hoffe, ich kann eines Tages die Menschen auch so erreichen, wir du es tust.

  7. einfach super! Hätten wir mal in der Schule so tolle Kurzgeschichten gelesen 🙂 Man kann garnicht aufhören zu lesen!

  8. Gerade noch einmal gelesen. Ein Text, der sehr tief berührt. Ich denke an einen meiner letzten Tweets: “Zulassen wäre weitaus schöner, als loslassen.” Zur rechten Zeit zulassen! Und ich denke an so viele verpassten, verlorenen Liebesgeschichten, wie wir leiden, weil wir sie nicht festhalten konnten. Und oft zu spät vermissen!

  9. Und wenn ich nachts nicht schlafen kann, legt er sich neben mich und erzählt mir die Geschichten, die nur die Reisenden kennen.
    Das ist einer der schönsten Sätze, den ich bisher gelesen habe. Und ich habe schon viel gelesen… Danke dafür!

Leave a comment

Your email address will not be published. Required fields are marked *