Lieber Paul,
heute ist es so weit – heute machst Du Deine letzte Fahrt. Kennst Du mich denn überhaupt noch? Es ist bald drei Jahre her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben. Das ist verdammt viel Zeit im Leben eines Autos. Und das hier – ist mein zweiter und letzter Brief an Dich.
Fünf Jahre haben wir zusammen verbracht. Jeden Tag sind wir zusammen zur Arbeit gefahren, 50 Kilometer hin, 50 zurück, nachts und am Wochenende zum Catering, wir waren im Gesangsunterricht und wenn ich zu einem Auftritt musste, hast Du jedes Mal meine Einsing-Übungen und meine Aufregung ertragen (besonders entschuldigen möchte ich mich hier für die ersten Proben zur Rocky Horror Picture Show). Wir waren im ganzen Land unterwegs, haben alte und neue Freunde besucht, Du hast sogar eine Fernbeziehung in Kassel ertragen, und immer geduldig irgendwo am Straßenrand gewartet, bis wir wieder nach Hause fahren. Meist waren wir nachts auf den Straßen, so war mein Leben eben damals, sind durch Wälder gefahren in der Gegend, in der wir wohnten, einmal haben wir einen Hirsch mitgenommen, nur leider nicht am Stück. Wir sind mit offenen Fenstern übers Land gedüst, wenn es überall nach Frühling roch, im Sommer sind wir zusammen an den Fluss gefahren und im Herbst haben wir Laub gepflügt. Wir haben Wintereinbrüche erlebt: auf der Autobahn, in der Rhön, und an Silvester auf dem Weg in den Norden, bei 30 km/h auf der Autobahn, als außer uns niemand mehr unterwegs war. Und wo waren wir nicht überall. In der Toscana, in Genua, und überall am Meer. In Frankreich, in Dänemark, in Braunschweig, in Stuttgart, Frankfurt, Nürnberg, München, Berlin und Wien. Im Ruhrgebiet, im Bayrischen Wald, in der Eifel und am Bodensee. Auf dem Dorf, in der Stadt, auf Feldwegen und auf vierspurigen Autobahnen. Wir waren auf Dorf-Feten, in großen Clubs, bei verschwiegenen Festen; beim Eislaufen, auf Silvesterparties, auf Konzerten. Am Waldsee, in Scheunen, auf Supermarktparkplätzen, in Hotelgaragen. 180.000 Kilometer sind wir so zusammen gefahren, ganz schön viel, für einen Mann in Deinem Alter, und wenn der Wind günstig stand, sind wir mit 200 Sachen an den Mackern in ihren BMWs vorbei.
Who should be asleep and not crossing roads or highways. Das war der Text zu unserem Lied.
Einmal standen wir an einer Ampel, mein damaliger Mitbewohner (der schlechteste Autofahrer aller Zeiten) saß auf dem Beifahrersitz und hatte das Fenster geöffnet, als neben uns ein LKW an die Ampel heranfuhr, mitten in eine tiefe Pfütze hinein, und zum Seitenfenster eine schwappte eine riesige Welle herein und neben mir saß ein von oben bis unten klatschnasser und sehr verdutzt dreinblickender Mitbewohner. Was haben wir gelacht damals (sorry nochmal, dass ich vor lauter Lachen gleich den Motor abgewürgt habe). Ich entschuldige mich auch aufrichtig für den Kartoffelsalat, der im Fußraum auf der Beifahrerseite auf dem Weg zu einer Hochzeit umkippte und dafür, dass Du trotz einer groß angelegten Putzaktion noch Wochen später ziemlich nach Essig rochst.
Weißt Du noch, wie ich bei meinem ersten Besuch in Berlin mit einem Kribbeln im Magen noch zu Dir sagte ich glaube, ich habe mich verliebt? Du kanntest all meine Lieblingsmenschen, wer Dich mochte, den mochte ich auch, und Du kanntest meine Lieblingsorte, wie den kleinen Waldsee, an dem es im Sommer nachts so schön war, oder die Anhöhe, von der aus man die ganze Gegend überblicken konnte. Mit Dir war das Leben, vor uns auf der Straße, in der Gegend drumherum, und irgendwo zwischen Fahrer- und Beifahrersitz: wurde herumgeknutscht, gelacht, geweint, geredet, gesungen, manchmal stundenlang, und manchmal von allem etwas. Nie hast Du viel verlangt, ein wenig Öl hier und da, fünf Liter Benzin auf hundert Kilometer, ein bisschen Liebe, und nie hast Du mich im Stich gelassen, auch nicht bei einem der vielen Umzüge, Möbeltransporte und Party-Großeinkäufe, die wir gemeinsam in den fünf Jahren durchgezogen haben, bis wir gemeinsam in Wien gelandet sind und ich schließlich ohne Dich nach Berlin ging.
Unsere Trennung bedaure ich bis heute, ich wünschte, es wäre anders gegangen. Und ich wünschte auch, dass ich diese E-Mail heute nicht bekommen hätte. In der stand, dass Du einen Schaden hast, den man nicht mehr reparieren kann (und noch etwas, das wir gemeinsam haben), und Du deshalb heute Deine letzte Fahrt antrittst. Ich bin sicher, Du verstehst, dass ich jetzt ein bisschen sentimental werde. Denn, weiß Du – Du bist ein Charakterauto. Eines mit einem falschen Rennstreifen, mit kleinen Dellen und großen Macken (die Motorwarnleuchte! Mann!). Du bist zwar klein, aber Du warst immer oho, und kein Auto ist so klein, dass man nicht darin übernachten könnte. Du warst eine ziemlich coole Sau und eine treue Seele, ein Mann aus Frankreich mit Herz. Und Du warst immer da. Ging es mir nicht gut, habe ich mich einfach hinters Steuer gesetzt, die Musik aufgedreht, und sobald ich das vertraute Tuckern Deines Motors hörte, war meine Welt wieder ein Stückchen vollständiger. Dir habe ich jahrelang noch Kassetten aufgenommen. Und mit Dir habe ich fünf der schönsten Jahre meines Lebens verbracht.
Jetzt wünsche ich Dir einen schönen Platz im Autohimmel, mit Ölquellen, immer einer Handbreit Benzin im Tank und ein paar anderen coolen Typen, die Dir von den Orten erzählen, an denen wir beiden nie gemeinsam sein konnten.
Tschüss, Paul. Und: danke.
Tschüss Paul.