Das Spiegelbild aushalten

I’ve been out walking. 
I don’t do too much talking these days.

Es war still in den letzten Tagen. Ich habe eine Computertastatur repariert, Teig für Gnocchi geknetet und zu Rollen geformt. Kaum Zeit zuhause verbracht. Weißwein getrunken, lange in Bars gesessen, Texte für Musik geschrieben. Katzen gestreichelt, Krokodile gesehen, Schneeflocken fallen lassen und nicht vorher aufgefangen.

Und dann das Rauschen. Ich bin seit einiger Zeit nicht mehr bei Twitter, und es rauschte trotzdem. #aufschrei. Also las ich, in Blogs und Zeitungen und wo mensch eben so liest. Dass das Thema mich triggert – geschenkt. Was sich nicht so leicht wegschenkt: ich las so Vieles, über Opfer und Ochsen, über George Clooney und Clubtüren. Ich dachte selten über so seltsame Dinge nach, und hätte sonst wohl nie konstatiert: ich will auch nicht, dass irgendein Schauspieler mir einfach so an den Hintern fasst (als ginge es darum). Und ich las so viel Unsinn. So Vieles, das mich vor Fassungslosigkeit Haare raufend in der U-Bahn stehen ließ. Selten war so viel “Dann mach’ doch die Bluse zu”, so viel “plumpe Anmache tüdeliger alter Dödel”, so viel “ein paar Frauen, die Männern keine Grenzen zeigen können”, “seid doch froh, dass ihr wählen dürft”, “aber wo ist denn dann die Grenze zwischen Flirt und Sexismus?”, so viel “das ist ein falscher Feminismus!” und so viel “wehr dich doch”. Und: selten war so viel Müll. Müll von Menschen, Müll von Männern, Müll von Frauen, Müll von Bloggern, Müll von Medien. Vielleicht bräuchte diese Debatte zuallererst eine Sondermülldeponie. Was sie zum Glück hat, das sind die Guten, die Klugen, die diskutieren, sich aufreiben, wofür ich ihnen jetzt, wo ich es nicht kann, noch dankbarer bin als ohnehin. Es gibt sie, diese Menschen, die auch sich selbst und ihr Verhalten reflektieren können, abseits der Pfade von Schuldzuweisungen und Pseudowitzen, die ernstnehmen, was andere Menschen hierzu sagen, die Vorschläge machen Und die zeigen: es geht nicht um einen Politiker. Es geht um einen sehr großen Eisberg.

Am Samstag sagt er am Küchentisch, in den drei Minuten zwischen Kochen und Essen: “Vielleicht sollten wir auch mal wieder über Anstand und Umgangsformen reden.” Was wir führen müssen, ist eine Machtdiskussion. Was wir erreichen müssen, ist eine Veränderung, hin zu einer Gesellschaft von Menschen, die einander respektieren und achten, zu einer Gesellschaft, in der klar ist, dass Ungutes da anfängt, wo es für einen der Beteiligten nicht mehr gut ist, und in der Einvernehmen die Basis ist. Eine Gesellschaft, die begreift, dass Feminismus nicht die Knechtschaft anderer Menschen bedeutet, die zufälligerweise eine andere Chromosomenstruktur aufweisen. Und dass die Zeit gekommen ist, Dinge nicht mehr hinzunehmen, nur weil sie schon immer so waren, die Zeit, in der wir die Möglichkeit haben, die alten Spielchen zu beenden und unsere Zukunft selbst zu basteln. Was wir brauchen, ist eine Gesellschaft, die versteht, dass es nicht nur darum geht, “Lass das!” zu jemandem zu sagen, sondern darum, wie wir morgen miteinander leben wollen. Eine, die ihr Spiegelbild aushält, die sich Fragen stellen lässt, Antworten sucht, Lösungen findet und endlich anfängt, sich zu bewegen. Es wird ein langer Weg sein, und wir sollten ihn gehen. Jetzt ist die Zeit dafür. Was wir brauchen, ist eine Bewegung der Klugen. Denn auch zwischen den Müllbergen kann ein Wald wachsen.

Selten war so viel inneres Aufschreien. Und selten war nach außen alles so still. Derweil wird in Berlin eine Frau von mehreren Männern vergewaltigt. Und draußen taut der Schnee.

3 comments

  1. “Denn auch zwischen den Müllbergen kann ein Wald wachsen.”

    Und nicht zu vergessen, Müllberge sind Berge, die zum Erklimmen einladen können – des größeren Weitblickes wegen.

    “Es geht nicht um lass das”

    Genau, denn dieser Zwang zum “lass das” ist ein Teil des Themas, eine Erlaubnis, weiter machen zu dürfen, bis das”lass das” gesagt wurde.”

    Deshalb müssen wir über Macht sprechen, über Deutungsmacht nämlich. Und wir müssen über Selbstbestimmung reden, über die Selbstbestimmung über Sexualität, ihrer Bedeutung und ihren Stellenwert. Im christlichen Abendland waltet darüber (immer noch) eine selbsternannte Gottesmacht.

  2. Die Diskussion hat schon jetzt zu einem Fortschritt geführt: Der Name des Täters wird selbstverständlich überall genannt. Obwohl Brüderle selbst keine Stellungnahme abgegeben hat und obwohl die Autorin keine Zeugen benannt hat. Früher hätte man ihr dann nicht geglaubt, man hätte Beweise verlangt (wobei ihre eigene Aussage nicht als Beweis gegolten hätte). Wenn überhaupt berichtet worden wäre, dann über “einen bekannten FDP-Politiker”. Doch das ist vorbei. Dem Opfer wird geglaubt. Eine Hotelbar ist kein Schutzraum für Täter mehr. Und die Diskussion hat jetzt auch schon andere Frauen ermutigt, an die Öffentlichkeit zu gehen und die Täter zu nennen: http://deraufschrei.wordpress.com/2013/01/27/endlich-werden-die-tater-genannt/

  3. > Eine Gesellschaft, die begreift, dass Feminismus nicht die Knechtschaft anderer Menschen bedeutet, die zufälligerweise eine andere Chromosomenstruktur aufweisen.

    Wenn sich die Feministinnen darin einig wären, wäre es wesentlich leichter, daß auch die Gesellschaft das so sieht.

    ( #ichsagsjanur #utopie )

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