Risikoklassen – Bedienungsanleitungen fürs Leben

Menschen wählen für ihr Leben unterschiedliche Risikoklassen.

Klar, es gibt Bungee-Jumper, Skydiver und Halmaspieler, Pokerfaces und Schokoladenosterhasen.
Aber selbst für passionierte Fallschirmspringer und Gletscherwanderer ist das Risiko überschaubar – gut gefaltet oder Steigeisen angeschnallt, abwärts oder aufwärts geht es dann quasi von selbst.

Weitaus gefährlicher ist das Leben da, wo es weder Fallschirm noch Gummiseil und doppelten Boden gibt:
Wenn es um Gefühle geht. Ein gebrochenes Handgelenk heilt schneller als ein gebrochenes Herz. Knochen kann man verbinden, “Heile, heile, Segen” singen und wenn es übermorgen geschneit hat, tut es nicht mehr weh. Das einzig wirksame Pflaster für Herzen ist Zeit. Oder Eis-Zeit. Sagt man.

Mit Gefühlen spielt man nicht, gleich zweimal nicht mit den Gefühlen anderer. Sich selbst verletzen darf man. Ist zwar nicht gesund, aber sei’s drum. Außerhalb des eigenen Körpers sind Verletzungen jeder Art jedoch tabu.
Doch was, wenn es bei diesem Spiel ist wie mit einem Kind, das mit einem Messer spielt, das ihm weggenommen wird mit der Begründung “das darfst du nicht!”? Das nicht versteht, was daran falsch ist, nicht versteht, wo das Problem liegt? Das nicht einmal gemerkt hat, dass das, womit man so tolle Linien in den Holztisch zeichnen kann, im schlimmsten Fall eine tödliche Waffe ist?
Was, wenn derjenige, der zu spielen beginnt, nicht einmal merkt, dass das, womit er spielt, Gefühle sind? Dass da überhaupt Gefühle da sind??
Meist wird so etwas, schlimmstenfalls von allen Beteiligten, erst dann bemerkt, wenn einer mit einer Stichverletzung blutend am Boden liegt.

Es gibt Menschen, die kennen ihre Risikoklasse ,wissen ob sie eine 5 (“mal so, mal so”) oder doch eine 10 (“ich will weder risk noch fun!”) sind. “Ich bin eine 1!” steht aber bisher immer noch bei niemandem auf dem T-Shirt (dafür dann vielleicht so etwas wie “Ich weiß, dass du eh nur mit mir ins Bett willst!” – sorry für den unqualifizierten Kommentar, aber das ist mir erst letztens begegnet. Das T-Shirt.). Das sind entweder die, die sich einen totalen Schutzschild zulegen und gerade erst ihre vierte Eiszeit hinter sich haben. Denen gar nichts mehr ausmacht. Wie der Typ “geklonte Kampfmaschine”, der so in diversen Actionfilmen auftaucht. Oder aber einfach die anderen, die mit sich und anderen achtsamer umgehen, da sie wissen, wie weh wir einander tun können.

Ich glaube aber, dass viele von uns das gar nicht gelernt haben. Auf die eigenen und die Gefühle anderer zu achten, sie zu respektieren und darauf einzugehen, wenn nötig. Unsere Großeltern waren im Krieg gefühlskalt oder gar gefühllos geworden, unsere Eltern sind in diesem Klima aufgewachsen, das geprägt war von Disziplin, Arbeit und an Furcht grenzenden Respekt. Damals waren andere Dinge wichtig als Gefühle, es war wichtig, dass alle zu essen, ein Dach über dem Kopf und etwas zum Anziehen hatten. Alles andere war etwas, womit sich die Studierten beschäftigten, die hatten Zeit für sowas, unsereins muss gucken, wovon wir morgen leben.

Heute? Haben wir eigentlich auch keine Zeit für solchen “Psychokram”. Aber da wir ja alle viel zu viel zu essen, zu viel zum Arbeiten, zu viel zum Anziehen und bestenfalls mehrere Dächer über dem Kopf haben, basteln wir uns andere Probleme. Fangen an, uns zu sezieren, in unsere Bestandteile zu zerlegen. Wir lesen Ratgeber zu Themen wie “Anleitung zum Unglücklichsein”, “Warum die nettesten Männer die schrecklichsten Frauen haben… und die netten Frauen leer ausgehen”, “Liebe dich selbst und es ist egal, wen du heiratest” oder “Der große Videoratgeber – Du und dein Hund”.
Liegt es daran, dass wir meinen, die Probleme, die wir uns durch unser sich durch diverse Ratgeber verkomplizierendes Leben (“Essen Sie Rohkost!” – “Nein, lieber Nudeln!” – “Nein, nur Proteine!”) pseudo-lösen und so eine vermeintliche Lücke (“Ich habe noch nie in meinem Leben 7 Portionen Obst am Tag gegessen!”) schließen zu müssen? Oder doch einfach nur daran, dass wir zu viel Medien-Input bekommen?
Das hat inzwischen etwas von sich selbst erfüllenden Prophezeiungen – “ich zeige dir, dass du ein Problem hast (Obstmangel! Vitaminmangel!), flöße dir ein bisschen Angst ein (Mangelerscheinungen!!) und weil ich aber so toll und nett bin und eh noch eine Fortsetzung zu meinem Buch geschrieben habe, zeige ich dir auch gleich noch, wie du dein Problem lösen kannst (Obst essen!).”
Es hat inzwischen kaum mehr etwas mit unserem ursprünglichen Problem zu tun, denn es geht gar nicht mehr um Achtsamkeit, Behutsamkeit, darum, andere und sich selbst gut zu behandeln. Sondern um die beiden K – Konsum und Kommerz. Oder wie sonst erklärt man bitte die 65.545 Ergebnisse, die www.amazon.de unter dem Stichwort “Ratgeber” ausspuckt?

Dabei könnte wieder einmal alles so einfach sein:

Über diesem Denken haben wir verlernt, uns auf die notwendigen Dinge zu konzentrieren:
Arbeiten. Essen. Schlafen. Kleidung haben.
Und auf die wirklich wichtigen Dinge –
auf uns selbst und unsere Mitmenschen.

Wenn wir auf sie mehr achten, tun wir einander weniger weh, weil wir unsere eigene und die Risikoklassen anderer besser erkennen. Und der Schokoosterhasi bekommt weniger Streit mit dem Skydiver.

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Now playing: Tim Hardin – How Can We Hang On To A Dream

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