Much too fast

Egal wie schnell man lebt – das Leben ist uns doch am Ende immer zwei Schritte voraus, und bis wir erst einmal meinen, es eingeholt zu haben, ist es schon um die nächste Ecke verschwunden.

Die Nacht von Dienstag auf Mittwoch war eine der Nächte, an denen einen solche sinnlosen Grübeleien nicht mehr loslassen. Abends habe ich erfahren, dass die Mutter einer ehemaligen Schulfreundin nach langer, schwerer Krankheit gestorben ist.

In unserer Gesellschaft härtet man ab, zweifellos. Mal ganz ehrlich – wen nimmt die Nachricht mit, dass es in Birma mindestens (!) 22.000 Tote gibt? 41.000 Vermisste? 6.500 Aids-Tote in Afrika – täglich. Täglich sterben 30.000 Kinder an den Folgen von Armut und Unterernährung. So weit weg. Kaum greifbar. Zahlen, die innerhalb einiger Tage viele süddeutsche Städte und in wenigen Jahren Deutschland auffressen würden – die aber keinerlei Bezug zu unserer Realität haben. Natürlich, wir leben auf dem selben Planeten – aber damit hat es sich doch schon. Selten, dass man wenigstens mal kurz mit dem Geldbeutel an Menschen in Not denkt. Unser Problem ist nur, dass unser Blick für andere aber so kurz ist, dass er noch nicht einmal über die Brennweite einer 0/8/15-Lupe hinaus reicht.

Mit einer Familie in Österreich leiden wir noch mit, wenn dort ein Mädchen nach jahrelanger Gefangenschaft wieder auftaucht. Und stirbt ein Deutscher im Ausland oder wird dort entführt, sind die Zeitungen voll davon. Aber Tausende von Toten in einem Land hinter der Türkei? Who cares?

In unserer Realität existieren Hunger, Armut, Krankheit und Gewalt nicht. Selten, dass man überhaupt einmal damit in Berührung kommt – und wenn ja, dann meist nicht in dem Maße, in dem Millionen Menschen täglich damit konfrontiert werden. Unsere Realität, das Leben, das für uns greifbar, spürbar, ertastbar ist, existieren Stress, Angst um den Job, Konflikte mit Freunden und Kollegen, Druck und Hetze – Platz für andere bleibt da kaum noch. Das sind Luxusprobleme, zweifellos. Andererseits sind es auch Probleme, an denen regelmäßig Menschen zerbrechen.

Jeder plant seine eigene Karriere, und im Zweifelsfall will man selbst der sein, der in der ersten Reihe steht. Auffallen, im Mittelpunkt stehen. Empfindsamkeit jedoch bedeutet Verletzlichkeit – und wer will schon verletzlich sein, in einer Gesellschaft, in der Zahlen, Daten, Fakten zählen und Gefühle höchstens was für die Flitterwochen geworden sind? Natürlich ist all das immer auch eine Einstellungs- und persönliche Sache – generell ist es jedoch einfacher, gegenüber Kunden, Kollegen immer stark zu sein, als zuzulassen, dass wunde, empfindsame Punkte, Schwachstellen, sichtbar werden. Angriffsfläche zu bieten kann schließlich tödlich enden. Dieser Selbstschtz ist also einerseits sehr wichtig – man verliert jedoch auf der anderen Seite auch schneller die Balanche hin zur Kaltherzigkeit, als man vielleicht für möglich hält.

Man neigt aber auch bedingt durch dieses häufige Denken dazu, über viele Themen hinweg zu rennen. Sich über Zahlen von Aidstoten oder Menschen in Birma, die unterdrückt in einem geschundenen Land leben, keine oder kaum Gedanken zu machen. Nach dem Artikel über Hungertote kurz in sein Brötchen zu beißen und zu den VIP-News überzugehen. Und das Gute ist ja: Galas wie “Ein Herz für Kinder” oder “Alles Gute Karlheinz Böhm – Ein Leben für Afrika” trommeln dann wieder regelmäßig in bestechend kurzem Abstand zu diversen Glückseligkeitsfesten einen Pulk Prominenter zusammen, die Werbung für die “gute Sache” machen, und das Volksgewissen etwas erleichtern.
Das klingt alles sehr weit und kontextfrei hergeholt, muss ich zugeben. Doch es gibt einen Grund, warum ich all das schreibe.
Zum einen, weil diese Entwicklung zu sinn-, ziel- und emotionsfreien Lebewesen etwas ist, das mir sehr unter den Nägeln brennt. Das mich bei jeder Katastrophe mehr aufregt. Zum anderen aber auch, weil es von Mutter Theresa ein sehr schönes Zitat gibt: “Lasse nie zu, daß du jemandem begegnest, der nicht nach der Begegnung mit dir glücklicher ist.”

Man kann sich nicht von jedem Unglück mitnehmen lassen. Wer bei jeder Todesanzeige weint, die er sieht, wird auf Dauer kaputtgehen. Glück haben kann jeder – es ist aber um einiges schwieriger, mit negativen Gefühlen und Trauer umzugehen. Wer auf andere zugeht und auch mal Emotionen zeigt, statt sie “I am a rock”-alike mit sich selbst auszumachen, wird zwar verletzlicher – aber liefert einem auch einen Grund dafür, dass man ihn liebenswerter findet. Weil er ein Mensch ist – nicht ein Roboter mit ein bisschen Blut um den Metallkern herum. Deshalb ist Empathiefähigkeit wichtig – weil man andere damit glücklicher machen kann. Denn wer sich in die Probleme anderer einfühlt, indem er einfach zuhört, kann vielen schon einiges abnehmen.

Ich werde gerade so pathetisch, weil ich auf das Zitat von Mutter Theresa in der Todesanzeige der Mutter meiner Schulfreundin gestoßen bin. Sie war solch ein Mensch.
In der Grundschule war ich oft bei meiner Freundin zuhause. Wir haben in ihrem Zimmer geschaukelt (ja, sie hatte eine Schaukel im [mit Backstreet Boys-Postern tapezierten] Zimmer – Neid!!), sind im Baumhaus gesessen, haben Radio gehört und draußen Fangen und Verstecken gespielt. Ihre Mutter habe ich immer sehr gemocht, und gemein wie Kinder sein können, hätte ich sie immer gerne als meine eigene Mutter gehabt.
Die Freundin und ich gingen nur bis zur fünften Klasse zusammen zur Schule, danach verlief sich das alles, wie es sich immer mit der Zeit verläuft, die Leben bewegen sich eben auseinander. Sie erkennt mich inzwischen nicht mehr, wenn sie mich sieht (sie kommt jeden Tag in eine unserer Filialen, um Kontoauszüge für ihren Chef abzuholen).
Aber trotzdem – es gab einfach einmal eine Verbindung zwischen uns. Deshalb hat mich diese Nachricht am Dienstag auch so getroffen. Ich wusste noch nicht einmal, dass ihre Mutter schon seit langem so krank war, und dann das…
Mein erster Gedanke war die Erinnerung an einen Tag, der über 12 Jahre her sein dürfte. Ich war bei meiner Schulfreundin zuhause, wir haben im Garten gespielt, und im Haus hat es sooo gut gerochen! Irgendwann hat ihre Mutter uns gerufen – auf dem Tisch stand ein Biskuitkuchen mit Erdbeeren, den sie gerade gebacken hatte, und wir durften beide ein kleines bisschen probieren. Später hat sie noch Fotos von uns im Garten gemacht. Ich hatte eine Latzhose an, die ich absolut cool fand, und eine Hundeleine in der Hand.

Zum letzten Mal gesehen habe ich sie vor 4 Jahren.

 

R.I.P.

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