Kenn die Nacht.

Es ist leicht, die Nächte voneinander zu unterscheiden,

diese ist eine Nacht von Samstag auf Sonntag, es ist kurz vor fünf, ich bin an irgendeinem U-Bahnhof in irgendeiner Stadt, auf dem Bahnsteig liegen Scherben, jemand stellt eine Bierflasche auf die Bahnsteigkante, die Flasche ist voll, nur ein Schluck fehlt, zwei Punks kicken eine Coladose über den Boden, und die Treppen hinunter fließt ein Menschenmeer.

Es ist leicht, die Nächte voneinander zu unterscheiden,

sie riechen anders, in der Luft dieser Nacht liegt keine Liebe, diese Nacht riecht nach Gras und Schweiß, nach Wodka, Bier und Dreck. Ich lehne mich mit dem Rücken an einen Pfeiler, der Beton ist kalt, dann schließe ich die Augen. Überall sind Menschen, mein Kopf ist schwer und mein Mund schmeckt nach Wein.

Es ist leicht, die Nächte voneinander zu unterschieden,

jede hört sich anders an, diese klingt nach betrunkenen Liedern und wir müssen die Musik immer lauter machen, damit man nicht hört, wie alles zerbricht, die Gleise summen, ein leises Knattern nähert sich, wird lauter, ein Zug fährt ein, ich mache einen Schritt auf die Bahn zu und drehe mich noch einmal um, an der Stelle, wo ich am Pfeiler lehnte, hat jemand mit Edding ein kleines Herz gemalt, der Bahnsteig leert sich, ich steige ein, die Waggons sind völlig überfüllt, die Lampen an den Türen blinken rot, wir fahren. Wir, wir sind Leute mit Zylinderhüten und Federboas, mit pinkfarbenem Lippenstift und grünen Strumpfhosen, mit Tröten und Trillerpfeifen, das ist jemand, der gerade in eine Ecke kotzt, ein alter Mann, der am Fenster sitzt und schläft, singende Briten, ein Akkordeonspieler, der Lärm, der Gestank, die Neonlichter, und irgendwie ist wir auch ich, vielleicht, und ich will jetzt gerne in der Bahn sitzen und heulen, aber eigentlich ist das alles egal, denn

es ist leicht, die Nächte voneinander zu unterscheiden,

alles ist leicht, so lange diese beiden ganz am anderen Ende des Waggons noch aneinander gelehnt dastehen, die Hände ineinander verschlungen, die Köpfe aneinander gelehnt. Niemand ist eine Insel. Für eine Insel muss man zu zweit sein.

 

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Categorised as kurz

By L.

I walk fast.

2 comments

  1. … und so begibt es sich, dass hin und wieder, ganz selten, 2 Halbinselteile mit kaum beschreibbarer Wucht aufeinander treffen. Kurz sieht es dann so aus, als entstünde eine Insel; viel zu stark war aber der Aufprall. Und nicht vermeidbar ist das schon kurz darauf einsetzende Auseinanderdriften der beiden solchermassen mit Gewalt zusammengeführten Teile …

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