Bruchrechnung

.

Die Pizza auf dem Teller ist kalt und der Tisch noch warm, als der Kellner die Reste wegräumt. Ein Viertel hat sie in kleine Stücke zerteilt, zwischen den Bissen lief ein Gespräch zwischen zwei Tellern und zwischen vier Füßen um eine Tischplatte herum. Drei Viertel der Pizza sind noch übrig. Drei von vier, das sind 3/4.

Dies ist kein Essen, dies ist eine Bruchrechnung.

Der Kellner bringt einen Pizzakarton mit den Resten, den trägt sie nach Hause und legt den kalten Karton auf den alten, wackligen Esstisch, bei dem die Schrauben locker sind. Die Fenster der Wohnung sind offen, die Nacht hat sich in den leeren Räumen ein Bett gebaut. Die kühle Luft ist eine Einladung, doch noch einmal nach draußen zu gehen, eine Einladung zu mehr Nacht, mehr Luft, mehr Sternenhimmel, sie lässt den Karton liegen, zieht die Tür zu und geht noch einmal auf die Straße. Aus dem Café nebenan dringt ein süßlicher Duft von Beeren und Bonbons, auf der Bank vor dem Späti sitzen die, die immer dort sitzen, es ist kühl, es ist dunkel, man kann die Menschen auf den Straßen erst erkennen, kurz bevor man mit ihnen zusammenprallt. Der Italiener um die Ecke hat noch ein Glas Grappa, das zu groß ist, und Zeit für ein Gespräch, das am Ende zu lang ist.

Dann zieht sie weiter, mit dem Nichts im Blick und dem Alles auf den Schultern. Sie geht mit der Geschwindigkeit derer, die nichts zu verlieren und nichts zu gewinnen haben. Sie geht ohne Ziel, die Füße werden finden, was die Augen nicht sehen, wovon der Kopf nicht weiß, dass das Herz es sucht.

Bald kommt sie zum Park, duckt sich an Büschen vorbei und geht über den Sand zum Kinderspielplatz. Ihre Augen gewöhnen sich ans Dunkle außen, ihr Restgefühl gewöhnt sich ans Halbdunkle innen. Sie setzt sich auf eine Schaukel, fährt mit den Händen die metallenen Ketten entlang, lässt die Füße baumeln, pendelt sachte hin und her, holt Schwung, ganz vorsichtig, dann immer mehr, bis sie mit der Nasenspitze die Bäume spürt und mit den Fußspitzen die Wolken treffen kann, bis es kribbelt in ihrem Magen und der Wind in ihren Ohren rauscht.

Als alle Wolken zerplatzt sind, aller Schwung verbraucht ist, schaukelt sie aus, zieht mit den Füßen Spuren in den weichen Sand, spürt den Beginn der Wiese und muss weitergehen.

Ziellos fotografiert sie die Straßen, ein Blaulicht und eine Laterne, die mit einem Baum verwachsen ist, die Kneipe am Ende der Straße hat noch auf, sie geht hinein. Ein leises Murmeln liegt über den Tischen, an der Bar ist noch ein Hocker frei. Sie setzt sich, öffnet den Reißverschluss der Jacke, und das ist der Moment, an den sie sich noch in hundert Jahren erinnern wird. Weil es nur auf halber Reißverschlusshöhe passieren kann, dass genau das Lied anfängt, das das einzig richtige ist für diese Nacht.

Sie hört das Lied und sieht einer Kerze beim Herunterbrennen zu.

/

Drei Minuten und achtundfünfzig Sekunden später ist das Lied vorbei. Und noch immer ist da eine Rechnung offen. Die Bedienung bringt ihr ein Glas Wein, einen Stift und einen Bierdeckel, dann rechnet sie schriftlich nach, denn manche Brüche kann man nicht im Kopf kalkulieren. Für manche Brüche muss man eine Variable berücksichtigen, man muss durch zwei teilen und mit einer Unendlichkeit multiplizieren, schließlich eine Unwägbarkeit addieren und eine fixe Idee subtrahieren. Und als der Bierdeckel voll geschrieben ist, ist die Variable aufgelöst und alles, was bleibt, ist ein Ende.

Sie steckt den Bierdeckel ein, trinkt den Wein aus, bezahlt die Rechnung und als sie ihre Jacke zuzieht, erklärt sie das Jetzt zum Ende aller Spiele, dem Ende aller Verklausulierungen. Und sie weiß, dass zuhause etwas auf sie wartet, auch wenn es nur der Rest einer kalten Pizza ist.

Es ist gut, eine Sache zu Ende berechnet zu haben. Denn ein Bruch, der zu Ende kalkuliert ist, kann eine Dezimalzahl werden, die größer als drei ist. Und was auf dieser Welt ist schon größer als ein Herz.

Früh morgens kommt sie nach Hause. Aus ihren Schuhen fällt weicher Sand.

By L.

I walk fast.

3 comments

  1. Ich fürchte ich habe es nicht ganz zu 1/1 verstanden, aber es ist wie immer sehr atmosphärischdingens geschrieben. Das finde ich so anheimelnd daran.

Leave a comment

Your email address will not be published. Required fields are marked *