Zelten (Folge 3 / 6)

Dieser Text stammt aus der Reihe “Mein schönstes Ferienerlebnis” und trägt immer noch den Titel “Zelten”. – Zu Folge 1, Folge 2

Tag 1

Ich hole meinen Rucksack vom Gepäckband und laufe aus dem Flughafen Olbia auf Sardinien, der ungefähr so groß ist wie mein Wohnzimmer. Irgendwo hier soll eine Bushaltestelle sein. Leider beschränken sich meine Italienischkenntnisse auf bitte, danke, ja und nein, damit kommt man in der Regel weit, immerhin haben sie mich gerade sogar über die Grenze gelassen. Ich traue mich nicht, jemanden zu fragen, und laufe einfach so hin und her.
Ich bin jetzt 30 Stunden wach.
Mein Rucksack wiegt inzwischen dreihunderttausend Kilo.
Ich habe Hunger.
Ich habe Durst.
Ich bin müde.
Ich will schlafen.

Da fährt ein Bus an mir vorbei. Ein Bus! Er hält. Ich steige ein, sage zum Busfahrer: “Centro?“, er hört SOFORT, dass ich kein Italienisch kann und sagt “ja, dieser Bus fährt ins Stadtzentrum“. Da fahre ich einmal weg aus Deutschland, und werde SOFORT als deutsche Touristin enttarnt. Ich fühle mich wie ein Versager. Ich setze mich hin, ich bin der einzige Fahrgast, der Motor läuft noch, endlich können wir losfahren. Und bald kann ich schlafen! Da steht der Busfahrer auf, steigt aus seinem Fahrerhäuschen, dreht sich zu mir um und sagt “Könne Sie kurz auf Bus aufpassen? Gleich wieder da.“ Ich nicke, warum auch nicht, ich habe schon auf Kleinkinder aufgepasst, da sind auch Busse mit fahrendem Motor überhaupt kein Problem für mich! Draußen rennt der Busfahrer vorbei, die Schöße seiner Uniform wehen hinter ihm her, er rennt zielstrebig in den Flughafen hinein. Entweder er muss WAHNSINNIG dringend aufs Klo oder er will spontan das Land verlassen, gleich geht der nächste Flieger zurück nach Deutschland.

Zwanzig Minuten später. Er ist immer noch nicht da. Darf man eigentlich mit einem deutschen Führerschein Klasse B auch einen italienischen Bus mit Anhänger steuern? Da kommt der Fahrer wieder, sagt “Sorry!“, schließt die Türen und wir beide fahren los. Kurz darauf stehe ich in der Touristeninformation. Hinter der Theke sitzt eine Deutsche, die mich ebenfalls sofort als Deutsche erkannt hat, ich sage zu ihr, dass ich jetzt sehr gerne wüsste, welcher der zehn Zeltplätze hier am schönsten ist und wie ich da hinkomme. Sie sieht mich sehr ernst an. Ich bekomme ein bisschen Angst. Und da sagt sie: “ja, also, die Zeltplätze hier haben alle nicht geöffnet.“ Ich bin jetzt seit 32 Stunden wach und meine Laune ist auf einem Tiefpunkt angelangt. “Die Zeltplätze haben alle noch geschlossen und machen erst nächsten Monat auf.“ NÄCHSTEN MONAT? So lange kann ich nicht mehr wachbleiben!

Ich überlege, mich aus Protest gegen das unzureichende Angebot an Zeltgelegenheiten einfach hier auf den Boden zu werfen und direkt einzuschlafen. Da redet sie weiter: “Und überhaupt, als Angestellte dieser Touristeninformation muss ich Ihnen ja sagen: hier ist es nicht schön.“ Bitte? Nicht schön? In meinem Reiseführer stand, dass es hier schön ist. Sehr schön sogar! “Ich würde Ihnen ja raten“, sie sieht mich jetzt über dne Rand ihrer Brille weg ganz offen feindselig an, “verlassen Sie besser sofort diese Stadt und fahren Sie weiter nach Süden.“ Bitte? Wo bin ich hier gelandet? Ich dachte, das wäre eine Touristeninformation? Ich meine, ich gebe ja zu, ich habe zwar seit gestern früh nicht in den Spiegel geschaut und nicht geduscht und sehe inzwischen vermutlich aus wie ein Zombie mit fettigen Haaren, einem sehr großen Rucksack und genauso großen Augenringen. Aber mich gleich der Stadt verweisen? Sie drückt mir noch einen Stapel Busfahrpläne in die Hand und sagt: “beeilen Sie sich, der nächste Bus fährt jetzt gleich!“, und ehe ich so richtig begreife, was hier passiert, sitze ich auch schon im Bus nach Süden. Als ich am Zeltplatz aussteige, gießt es wie aus Eimern.

Ich sehe mich um: die nächste Unterstellmöglichkeit ist 500 Meter weiter am anderen Ende des Zeltplatzes. Ich reiße meinen Rucksack auf und zerre das Zelt heraus. Ich habe 23 Einzelteile in der Hand und keine Ahnung, was ich damit machen soll. Vielleicht, jaaaaa, vielleicht hätte ich ja das Zelt einmal zuhause aufbauen sollen. Und selbst wenn nicht, vielleicht hätte es ja geholfen, die Aufbauanleitung NICHT zuhause liegenzulassen.
Ich bin jetzt seit 38 Stunden wach.
Ich bin sehr müde.
Und meine Laune ist sogar noch schlechter als das Wetter.

Ich nehme das größte der Teile, das am wenigsten Löcher hat, werfe es auf die Wiese und krieche mitsamt meinem Rucksack darunter.

zelten, sardinien, 2013

Der Regen wird stärker. Um uns herum sammeln sich Pfützen. Ich hole meinen Reiseführer aus dem Rucksack, schlage die erste Seite auf und sehe sofort, dass dieser Reiseführer nichts taugt: auf der ersten Seite des Reiseführers steht:

willkommen im sonnigen Sardinien.

Tag 2

Irgendwann gegen Abend habe ich es gestern noch geschafft, das Zelt aufzubauen. Als ich aufwache, ist es 5 Uhr morgens und ich liege in einer Pfütze. Leide ich doch an ersten Anzeichen von Älterwerden, und müssen diese Anzeichen ausgerechnet Inkontinenz sein? Nein: Es regnet immer noch, und durch einen Reißverschluss tropft Wasser ins Zelt.
Mein Schlafsack ist nass und klebrig.
Mir ist arschkalt.
Ich möchte in mein Bett.
Ich möchte nach Hause.
Ich will aufn Arm!
Als ich das Zelt aufmache, kommt mir ein Schwall Wasser entgegen.

zelten, sardinien, 2013

Und dann sitze ich da: patschnass von oben bis unten, in einem nassen Zelt, mitten im strömenden Regen. Morgens um 5. Da muss ich an die Worte meines Vaters denken, der immer sagte: “Zelten bei gutem Wetter ist was für Anfänger!”

ICH MÖCHTE ABER MANCHMAL EINFACH NICHT PROFI SEIN!

Wenn schon alles doof ist, will ich jetzt wenigstens einen Kakao trinken. Ich habe von Zuhause Milch und Kakaopulver mitgebracht, beides befindet sich im Rucksack. Als ich das Lebensmittelfach im Rucksack öffne, kommt mir bereits eine Wolke Kakao entgegen. ich ahne Übles und öffne das Fach weiter. Die Tüte, in der ich den Kakao verpackt hatte, war offenbar irgendwann während der Fahrt gerissen, woraufhin sich der gesamte Inhalt einer riesigen Dose Kakao in meinen Rucksack ergossen hatte. Tja. Und irgendwie muss dann auch ein wenig Feuchtigkeit in das Fach gelangt sein. Das Ergebnis: all meine mitgebrachten Lebensmittel, das Geschirr, der Kochtopf, das Rucksackfach und jetzt auch meine Hände sind mit klebrigem Kakao eingesaut. Ich packe alles wieder ein und gehe erst einmal spülen.

Im nächsten Teil machen wir Bodenturnen und eine Gasexplosion. Schalten Sie also auch morgen wieder ein, wenn es heißt: Zelten macht Spaß! – Zu Folge 4.

By L.

I walk fast.

3 comments

  1. Ich musste beim Lesen unweigerlich an mein erstes Bundeswehr Biwak in Osterode mitten im November, glaube um 1990 herum denken.
    Es fing mit Kälte unter null Grad an und endete nach einer Woche im Dauerregen mit Matsch. Ich kann Deine Lage sehr gut nachfühlen 🙂

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