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Und als der Regen fiel, hätten wir uns küssen können zwischen den Pfützen, an den grünen Ampeln, auf den Zebrastreifen und unter den Brücken.
Weil unsere Mäntel mit dem Grau des Tages verschwommen wären, hätten nur ein paar Leute uns gesehen, wie wir da stehen, wie ich meine Hände vergrabe in deinen hellen Locken, wie deine Arme um mich geschlungen sind, wie nass unsere Haare schon sind vom Dastehen und Küssen und dass deine Füße in den schönen grünen Sneakers auf einem Gullydeckel stehen und ein kleiner Bach an ihnen vorbeifließt, der schlingernd eine Handvoll Blätter, drei Kippen und ein Kaugummi in die Tiefe trägt. Es wäre gewesen wie damals, an jenem Regentag vor dreieinhalb Jahren, als wir an einem anderen Bahnhof in einer anderen Stadt standen, aneinandergelehnt, uns in die Augen sahen und der alte Mann uns sah, stehenblieb, lächelte und ganz leise sagte so muss die wahre Liebe sein und weiterging. Hätten wir uns geküsst, wäre das Leben weitergegangen wie er, zur Bahn, zum Bäcker, den Bach runter oder ziellos die Straße entlang.
Es gibt nur dieses eine Foto von uns. Im impulsiven Moment eines Gefühls von Kulturmangel hatte ich mir eine Eintrittskarte gekauft, und dann war ich tatsächlich auch hingegangen, ins Theater, ganz alleine, und ich war viel zu früh da. Auf dem Foto läufst du links durchs Bild, lachend und eine Geste in die Luft malend, inmitten einer Gruppe Menschen, die ich davor und danach nie wieder gesehen habe, ich stehe rechts im Bild, ganz hinten an einer Säule, und betrachte den Boden, das war, weil auf dem Boden ein Fleck zu sehen war, von dem ich überlegte, ob es ein festgetretenes Kaugummi sein könnte, ein Fleck, den ich mir in Wahrheit nur ausgedacht hatte, weil ich nicht gewusst hatte, wohin mit meinen Augen. Nach der Aufführung war ich schnell nach draußen gegangen, vor dem Theatereingang stehengeblieben, weil ich erst da die Sinnlosigkeit dieses schnellen Aufbruchs bemerkt hatte, sinnlos, wo ich doch eh nicht wusste, wohin mit mir und dem Rest des Abends. Ich lief am Theater entlang, landete vor dem Bühneneingang, setzte mich auf eine Mauer und steckte mir eine Zigarette an, Da ging die Tür auf, du kamst heraus, fragtest nach Feuer und setztest dich neben mir auf die Mauer, und dann saßen wir da so. Bis du sagtest ich bin müde, morgen ist schon die nächste Aufführung, die Knie unter dein Kinn zogst und ich nicht wusste, was ich dich fragen oder sagen sollte, alle Worte, die ich mir im Kopf zurechtlegte, sahen bei näherer Betrachtung falsch und unangemessen aus, also sagte ich nicht viel. Du auch nicht. Du wolltest noch ein wenig spazieren, zum Runterkommen, und dann nach Hause gehen, ich dachte dann, so ein Spaziergang, das wäre doch ok, und dann liefen wir einfach, die Isar entlang, über das Eis, durch einen Park und leere Straßen zurück zum Fluss, es war furchtbar kalt und dunkel, nur im Schein der Straßenlaternen sahen wir noch die Atemluft in den Nachthimmel steigen. Das nächste Mal sagten wir etwas, als wir auf diese Brücke zugingen, und alles anfing.
Deinetwegen habe ich. Ach. Ich bin Dichter, das weißt du, hast es immer gewusst, noch bevor wir auf dieser Brücke über der Isar standen und die Sonne aufging. Wir Dichter haben es mehr mit der Sehnsucht als mit der Erfüllung, das ist Schrott, aber wenigstens systemimmanent. Du bist Tänzerin, du hast es mehr mit der Bewegung als mit dem Stillstand, das ist auch Schrott, aber wenigstens sieht es schön aus. Ich mag es, wenn du tanzt.
Und dann, vor ein paar Wochen, hast du mir auf die Mailbox gesprochen, an meinem Geburtstag. Nur deinetwegen hatte ich die Mailbox wieder aktiviert. Ich hatte schon geahnt, was passieren würde, wenn du anrufst, dabei hatte ich nicht einmal gewusst, ob du es tun würdest. Dann blinkte dein Name auf dem Display und ich tat so, als sähe ich es nicht, als hörte ich das Klingeln nicht. Dabei habe ich doch nur darauf gewartet, dass es endlich aufhört, wie ich seit drei Jahren jede Stunde darauf warte, dass es endlich aufhört. Die ganze Zeit seit meinem Geburtstag habe ich deine Stimme in meiner Jackentasche herumgetragen, ja, in der Jackentasche, nicht in der Hosentasche, weit genug weg, kein direkter Körperkontakt; und doch ausreichend nah, nur wenige Sekunden und fünf Zentimeter weit entfernt; alles genau so, wie es immer war. Ich habe mir diesen Moment aufgespart, für einen Augenblick, in dem es passt, in dem alles soweit gut ist, dass ich dir wieder begegnen kann, ich habe gewartet, mich verzehrt und mich dafür gehasst, doch der Augenblick kam nicht, und dann habe ich es nicht mehr ausgehalten, ich habe die Mailbox abgerufen, Sie haben eine neue Nachricht, ein Knacken und dann der Moment, in dem die Luft im Raum in sich zusammenfällt. Danach ging ich einkaufen, das Spülmittel war leer.
Wir waren nie so viel, wie wir hätten sein können, und noch heute trete ich beim Gedanken daran trotzig gegen kleine Steine.
Dann sahen wir uns das letzte Mal, von dem wir wussten, dass es das letzte Mal sein würde. Und wir haben uns nicht geküsst. Wir haben nur dagestanden, voreinander, und uns an den Händen gehalten. Wir haben uns nicht mehr angesehen, und nun weiß ich nicht einmal mehr, wie hell deine Locken sind. Es gibt doch nur dieses eine Foto von uns. Ich weiß nur noch, dass beim Kiosk nebenan zehn verschiedene Schlagzeilen auslagen, Päckchen von roten Gummischlangen und das neueste Lustige Taschenbuch; dass da vierzehn Backsteinplatten an der Wand schwarz bemalt waren, fünf Punks in einer Ecke saßen und sieben Hunde an uns vorbeiliefen in all der Zeit. Und als ich danach aus Versehen wieder in dein Gesicht sah, da weintest du, ich weinte auch, und es war nicht wie in diesem scheiß Lied, weil nämlich jeder genau weiß, was Regen ist und was nicht.
Und ich glaube, der alte Mann hatte Recht.