Sechs, sieben, acht, neun, zehn. Die Straßenlaternen stehen zehn Schritte weit auseinander, wenn sie kaputtgehen, ist nur mehr ein leises Knacken zu hören, bevor sie ein letztes Mal aufflackern und in der Dunkelheit verschwinden. Es ist vier Uhr morgens an einem Donnerstag. Der Wind treibt Nebelschwaden durch die Straßen. Die Bäume nur noch Gerippe, schwarz vor dem Licht der Straßen, Nachtlicht, Nichtlicht, sie tragen keine Blätter mehr, das Jahr hat sie ihrer Haut beraubt, sie sind nackt wie wir, zwei Monate sind erst vorbei und wir haben nichts mehr, das uns schützt, wenn der Winter noch einmal zurückkommt.
Die Stadt ist zur Kulisse verkommen, vor der das Leben spielt. Alle wollen auf die Bühne, und jeder spielt sein eigenes Stück. Manchmal wird jemand von der Bühne getragen, selten geht einer freiwillig. Die Hauptsache ist, dass jeder seinen Auftritt hat, man muss an jedem Tag sein können, wo man sein will, am besten immer ganz weit oben, man muss auch sein können, wer man sein will, der Bettler und der König, die Prinzessin und die Gänsemagd, der Casanova und die gestiefelte Katze, und die Kulisse ist egal geworden, die Hauptsache ist nur, dass das Stück weitergeht.
Es gibt keine Märchen mehr. Was wir haben, das sind die Kolumnen im Tagesspiegel, geschrieben von den alten Männern, die britische Anzüge und wirres Haar und alte Ansichten tragen. Die Anzüge bringen sie gelegentlich in die Reinigung. Die Ansichten sollten sie besser den Motten überlassen, doch auch eine Motte frisst nicht alles, nur weil es halbseiden ist.
Ich kann nur noch glauben, was ich mit Händen greifen kann, und kann nur noch fassen, was aus wenigstens zehn Prozent Baumwolle besteht.
Die Stadt ist das Meer, das unter meinem Bett schläft, in meinem Schrank wartet, bis es irgendwann herauskommt und meine Nächte mit Stränden füllt. Manchmal, wenn ich morgens aufwache, habe ich ein Rauschen im Kopf und Sand in den Augen. Ich will, dass das aufhört, dass die Stadt mich endlich in Ruhe, in Frieden lässt. Ich ertrage die Bilder nicht mehr. Die Litfaßsäulen und Plakatwände, die Häuser und Straßen, die Menschen und Hunde, die Bahnen und Busse. Ich fahre durch alle Bezirke, fahre bis an den Stadtrand, wo die Hochhäuser enden und die Felder beginnen, ich fahre sieben Mal um sie herum und nichts verändert sich. Ich gehe durch all ihre Straßen und zähle die Stunden, die es braucht, bis meine Füße schmerzen, ich atme so lange, wie lange es dauert, bis meine Beine und mein Kopf müde werden.
Ich will in einem Zug sitzen, der nach Norden fährt. Ich will Kekskrümel in einem Abteil verteilen, die Beine auf einen Sitz legen und den Kopf in den Nacken, will nach draußen sehen und sehen, wie die Enge der Stadt abnimmt und wo es anfängt, dass die Weite beginnt. Ich will den Gleisen nachsehen, dorthin, wo sie am Horizont verschwinden. Ich will das Zugfenster öffnen und wenn ich nach draußen sehe, soll da ein blauer Himmel sein. Und nichts weiter. Nichts weiter als dieser Himmel. Ich will sehen, wo die Felder sind, die kleinen Wege, die nur von Traktoren befahren werden, wo die Hecken an den Gleisen ganz hoch sind und wo Zuckerrüben wachsen. Und Klatschmohn. Ich habe Sehnsucht nach Klatschmohn und dabei meine ich den Sommer, wie die Leute, die Pornos gucken und kleine Filme über Sex mit einem Kino voller Liebe verwechseln.
Und irgendwann will ich wieder ankommen. Ich will an einer Endstation meine Tasche aus dem Gepäckfach nehmen und aus dem Zug aussteigen, über den Bahnsteig gehen, vor dem Bahnhof auf einer Treppe sitzen und einatmen. Es ist anstrengend, während einer Zugfahrt die ganze Zeit die Luft anzuhalten. Und dann will ich die Augen öffnen und die Stadt von außen brennen sehen.