Oh, Boy

Gehören auch Sie zu den Menschen, die häufig sagen “man sollte ja viel häufiger ins Kino gehen”? Ersetzen Sie “ins Kino gehen” durch “ein Buch lesen”, “ins Theater gehen”, “selbst kochen”, “in Räumen mit Glitzergoldvorhängen sein” oder “früher Feierabend machen”, und vor Ihnen liegt der Lebensentwurf des Durchschnittsgroßstadtmenschen im Satzbaukastensystem.

Dieser Typ, um den es geht, der ist auch irgendwie Großstadt, irgendwie Mensch und irgendwie Durchschnitt, nur mit dem Sollen hat er es nicht unbedingt.* (*Und jetzt huldigen Sie mir bitte für diese gelungene Überleitung, die mir vermutlich post mortem die Günther Jauch-Gedächtnismedaille einbringen wird.)

“Und wenn die Haltung stimmt, hauste drauf.”

Aber beginnen wir von vorne, wo alles begann, also bei der Geburt, überspringen direkt ein paar Jährchen und landen beim Endzwanziger an sich. Und was soll man sagen? Es läuft einfach nicht, beim Endzwanziger. Was genau nicht läuft? Mädchen (keine Zeit, Termine, Termine), Frikadellen (nicht gut), Umzugskartons (stehen eher), Kohle (keine), der Stressless-Sessel (einziges Wort der Welt mit 8 s), das Studium (das Beste, was man mit einem Jurastudium tun kann: abgebrochen), das Verhältnis des deutschen Films an sich zum Nationalsozialismus an sich (eher ungut) und eigentlich sind doch alle nur Schauspieler. Nur dieser eine spezielle Endzwanziger namens Niko ist kein besonders guter. Obwohl: ist man noch ein Schauspieler, wenn man seine Rolle so sehr verinnerlicht hat, dass man sie sich selbst glaubt, dass man das Problem ist? Man weiß es nicht, aber, ach ja, man möchte es so vor sich hin seufzen, dieses Oh, Boy, ohne Ausrufezeichen, das wäre zu laut, aber so leise in den Raum hinein, er müsste es gar nicht hören, womöglich wäre es sogar mehr ein gerufenes Flüstern an einen selbst.

“Sie können auch gerne hier pennen.”

Schön sind ja auch die weniger geflüsterten, aber hinsichtlich der Lautstärke stehts wohldosierten musikalischen Anspielungen auf die Zeit, als, wie man so nett sagt, die Bilder laufen lernten (heute lernen sie ja nur noch 3D und Mehrdimensionalität, was man ja aber nicht mit Vielschichtigkeit verwechseln sollte). Und überhaupt, die Musik, das haben sie sehr schön gemacht, das muss man sagen. Die Musik ist ein bisschen die Farbe in diesem Schwarz-Weiß-Film.

Die Handlung? Nun, es gibt einen roten Faden, der nicht mehr als ein Bindfädchen ist, das die Bilder umwebt wie ein gutes Buch, stabil und doch nur selten sichtbar, der ab und an herausblitzt und sich sonst zurückhält.

“Sie meinen also grundsätzlich Alkohol, wenn Sie von ‘trinken’ sprechen.”

Diese grundsätzliche Unaufdringlichkeit, die Leichtigkeit des schweren Seins, die Frage: hat er’s jetzt nicht leicht, macht er es sich einfach selbst schwer oder ist das alles nur Gravitation?, vielleicht beantwortet sie sich. Und man hat das Gefühl, es wär’ auch nicht schlimm, wenn nicht. Sowieso ist das kein Film, der Fragen stellt, aber es ist eine große Liebeserklärung. Nicht an den Endzwanziger, aber an diese Stadt, die nicht immer schön, sondern eher abgefuckt aussieht, ja, auch im Film, aber es gelingt tatsächlich, dass man dieses abgefuckte Etwas trotzdem gut findet. Liebevoll abgefuckt, wohl.

Den Film trägt eine sachte, stets präsente, aber nie aufdringliche Grundmelancholie, und man fragt sich: was wurde zuerst erfunden – der November, die Melancholie oder doch dieser Film? Es ist im Prinzip eh alles eins, so leicht und zart und schwermütig, ohne schwer zu sein. Mütig.

Und diese Bilder! Ach, diese Bilder. Jedes einzelne zum Aufhängen und Davorniederknien schön. Das Licht, die Schatten, diese Menschen, nicht alle schön, aber alle so großartig eingefangen, nicht in einen Käfig gesperrt, sondern gehalten und wieder losgelassen. Solche Bilder sind das.

Und die Geräusche. Man möchte ihm danken, dem Erfinder des hochempfindlichen Mikrophons (ja, mit ph, der hat nämlich sicher kein Mikrofon erfunden, ein Mikrofon hätte überhaupt niemand erfinden wollen). Der die Stadt so laut lärmen lassen kann, und dann einen Raum füllt mit dem Geräusch einer Flüssigkeit, die in ein Glas rinnt. Mit dem Klang von Rauch, der in die Luft zieht, und als alles so still wird und so nah ist, dass man glaubt, ein Blinzeln hören zu können.

“Du, nee, heut Abend ist ganz schlecht, du weißt doch, ich hab Termine.” – “Was für Termine denn?” – “…”

Dieses Stück Kino entbehrt weder eines schönen Humors, der gar in Witz und Komik ausbrechen kann (man hörte, es ward gar gelacht), noch entbehrt es überhaupt der Schönheit, deshalb sollten Sie einfach mal wieder ins Kino gehen. Lohnt sich.

“Ich verstehe sie nicht, die Menschen, ich verstehe sie nicht.”

Das Einzige, was einem daran auf den Sack gehen kann, ist, natürlich, dass dieser Niko schon ein bissl als Klischeeschleuder herhalten uss, aber das muss man ja auch bei den meisten Filmen sagen, besonders, wenn man sich so ein bisschen im Film wiedererkennt (ich sag jetzt nicht, an welcher Stelle). Und schauen Sie bloß nicht den Trailer zum Film an, der ist schlecht. Alles andere ist gut. Und es geht nicht um Liebe, was total gut ist. Und außerdem: Tom Schilling, ey. Oh, Tom.

Das wirklich, wirklich Allerbeste kommt aber fast ganz zum Schluss. Tipp: achten Sie auf den Abspann, da ist eine Pointe versteckt (die natürlich wieder niemand bemerkt hat, weil alle schon mit ihren Winterjacken rascheln mussten. Anfänger.).

Das Beste, was einem im Kino passieren kann, ist zum einen, dass dieser Film läuft, und zum anderen, das Leuchten der Kinoleinwand in einem Augenpaar neben einem zu sehen, noch ein bisschen tiefer in den Sessel zu sinken, und eine Hand in einem Nacken zu vergraben. Ende.

Regie: Jan-Ole Gerster, Musik: The Major Minors, Besetzung: Tom Schilling, Marc Hosemann, Julika Hoffmann, Justus von Dohnány, Ulrich Noethen)

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