Es gibt im Internet einen Briefkasten für Briefe ohne Absender. Formspring heißt der, und die Fragen, die da ankommen, sind manchmal lustig („warum twitterst du andauernd über sex, anstatt ihn zu machen?“), manchmal naheliegend („wie alt bist du?“), und oft einfach schön („Fährst du mit mir ans Meer?“). Ich mag das.
Zu einer Frage gehört meist, dass sie keine Antworten impliziert. Dass sie nur dasteht, nackt und alleine auf einer Landstraße. Dass man sie mitnehmen kann, oder so stehen lassen. Das ist der Job einer Frage.
Die meisten Fragen lassen sich irgendwie beantworten. Man kann um sie herumfahren, sie beäugen, berühren, ihnen durch die Haare wuscheln, ihnen die Gegend und die Wolken am Himmel zeigen, oder man kann mit ihnen lachen. Dann kann man sie abhaken. Sie sind flüchtige Bekannte, die man einmal kurz traf, und die einem nie wieder begegnen.
Bei manchen Fragen ist das anders. Sie lassen nicht einfach irgendetwas mit sich machen, irgendetwas aus sich machen, lassen sich schon gar nicht mal eben so beantworten. Nein: sie wuscheln einem durch die Haare, verdrehen einem den Kopf, damit man das Reh sieht, das am Wald steht. Sie füttern einen mit Kekskrümeln, sie lenken einen so lange ab, bis man gar nicht mehr weiß, wo man eigentlich hin wollte. Sie treffen genau im richtigen Moment genau diesen einen wunden Punkt, von dem man glaubte, ihn so gut versteckt zu haben. Sie bringen einen zum Denken, ob man will oder nicht, man muss dann nachdenken, und zwar gleich mal über alles. Dann sitzt man da und grübelt: wer sie zu einem geschickt hat. Was das von einem will. Was das mit einem macht. Was man damit macht.
Und was passierte, wenn man es wüsste: Von wem, warum, wohin damit.
Diese Fragen sind keine Freunde. Sie sind die verhasste Zicke aus der ersten Klasse, die einen damals nie beim Seilhüpfen hat mitspielen lassen, die mit den furchtbar schönen langen, braunen Haaren, die immer die guten Noten hatte und die schönsten Pausenbrote. Bei der man froh war, als sie nach der zweiten Klasse in eine andere Stadt gezogen ist. Und von der man hoffte, sie nie wieder sehen zu müssen. Genau sie ist es aber, die man immer wieder trifft. Beim Schulausflug, auf dem Gymnasium, im Bus, beim Schulfest, im Zug in die Stadt, in der Dorfkneipe, und in der großen Stadt, in die man irgendwann gezogen ist. Man hat jedes Mal mit ihr geredet, Mensch, schönes Wetter, ach, es ist so toll hier, was machst du, wie geht’s dir, gut, alles bestens, und war froh, wenn man zufällig aussteigen oder weg musste.
So ist das mit diesen Fragen. Die man nicht einfach abschalten kann, – weil sie einen eh schon beschäftigt haben. Bevor jemand sie aussprach, bevor sie plötzlich für alle sichtbar dastanden. Weil sie etwas sind, das einem immer wieder begegnet ist. Und von dem man weiß, dass man es wiedersehen wird. Irgendwann, in diesem Leben.
„Haben wir den Moment verpasst?“