Weit (weit weg)

Ich sitze im Auto und fahre aus der Stadt hinaus. Eigentlich hatte ich das nicht geplant, eigentlich hatte ich mir überlegt, das reicht, wenn ich das nächstes Mal mache. Aber dann saß ich an einem Samstag Abend in der Bar, mit einem Isländer, einem Finnen und einem New Yorker, der eigentlich Venezolaner ist, wir tranken Bier, es gibt ein eigenes Weihnachtsbier hier, das ist ganz dunkel, fast schwarz, und schmeckt ein wenig nach Malz. Das mit der Bar, das war die Idee des Finnen, also saßen wir da und redeten, über das Alleinereisen und Wikileaks und Nazis. Und dann war es plötzlich Mitternacht und alles war klar: dass die Länder nie so sind wie ihre Hauptstädte. Dass ich endlich ein erstes Gefühl dafür bekommen will, was für ein Land das ist. Ich ging zur Rezeption, sagte, dass ich in der kommenden Nacht nicht da sein würde (ok), fragte, wo man denn hier ein Auto mieten könne (die Straße runter, da rechts), auf meinem Zimmer suchte ich ein Hotel, buchte und ging schlafen.

Am Sonntag Morgen um 09:40 Uhr breche ich auf. Ich will raus aus Reykjavik, die Westküste entlang, mein Ziel ist ein ein kleines Dorf auf einer Halbinsel. Es ist noch dunkel. Stockdunkel. Der Tag beginnt hier inzwischen gegen 11:30 Uhr, um 13 Uhr steht die Sonne am höchsten, also gerade so hoch, dass sie ganz über den Horizont schaut, und um 14:30 Uhr wird es auch schon wieder dunkel. Um 16 Uhr ist es Nacht.

Ich habe ein ganz kleines Auto gemietet, das günstigste, das sie hatten, mein Gepäck habe ich auf der Rückbank und den Beifahrersitz verteilt. Es ist der erste Advent, es soll den ganzen Tag regnen, für den folgenden Tag ist Schnee angesagt. Auf den Straßen ist kaum ein Auto zu sehen, ich fahre um die Stadt herum, 60 km/h, aus der Stadt heraus auf die Ringautobahn, die einmal um die Insel führt, 90m/h. Sturm, der das Auto zur Seite drückt. Regen gegen das Dach und die Scheiben. Ich schalte das Radio ein und drehe die Musik auf. Auf Senderspeicherplatz eins laufen Weihnachtslieder, ich verstehe zwar den Text nicht, aber das Glöckchengeläut im Hintergrund. Auf Senderspeicherplatz zwei läuft R’n’B, auf der drei auch, auf der fünf etwas, das klingt wie Volksmusik. Auf der sechs läuft die isländische Version von “Hey Baby”. Und dann fahre ich, immer weiter geradeaus, durch einen Tunnel unter einer Bucht hindurch, 1000 Kronen die Durchfahrt, das sind etwas über sechs Euro. Weiter durch karges Land, alles hier ist karg und kahl, über endlose Straßen in die Berge.

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Es wird langsam heller, Schnee ist auf ihren Kuppen zu sehen, zwischendurch fällt immer wieder Regen. Irgendwann esse ich, eine Banane, einen Müsliriegel, eine Handvoll salziges Studentenfutter, und trinke eine halbe Flasche Leitungswasser, die ich heute früh noch aufgefüllt habe. Die Ortsnamen sind hier so lang, dass sie auf den Straßenschildern abgekürzt werden, dann steht da “Reykjav.” für Reykjavik und “Grundarfj.” für Grundarfjördur.

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Ich summe leise die Musik mit, dann singe ich laut alles, was ich kenne (vielleicht auch das, was ich nicht kenne). Immer geradeaus. Über Brücken, die über Buchten führen, zwischen Hügeln hindurch, bisweilen ein Haus, irgendwann ist es wirklich hell, ich halte an, steige aus und der Wind knallt die Autotüre hinter mir zu. Ich ziehe meinen Mantel zu und die Kapuze über meinen Kopf, darunter trage ich noch einen Pullover und zwei T-Shirts, unter der Jeans eine Strumpfhose, darüber noch dicke Wollsocken. Ich nehme meine Kamera vom Beifahrersitz, klettere einen Hügel hinauf und sehe nach unten.

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Und es ist genau so, wie ich es schon die letzten Tage geahnt hatte. Genau das, was ich gedacht hatte, als ich vor einigen Monaten den Flug hierher gebucht hatte. Es ist genau der Grund, warum ich schon wusste, dass ich nach meinem ersten Besuch hierher zurückkehren würde, ohne jemals hier gewesen zu sein:

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Es ist diese Weite. Die mich sprachlos macht. Und mich völlig fassungslos zurücklässt.

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Da ist nichts: kein Gebäude, keine Straßenlaterne, kein Verkehrsschild, kein Busch, kein Baum. Nur vereinzelt Pferde mitten in den Felswänden und riesige Lavabrocken am Straßenrand. Dann eine Pfütze, ein Bach, ein See, eine Insel, ein Wasserfall, und dann die Wolken, sie hängen tief über Bergen, die aussehen wie vor langer Zeit gestrandete Wale.

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Es sind diese Farben. Überall schwarze Lava, weißen Schaumkrone auf den Wellen, blaugrauer Himmel mit schwarz und weiß hingetupften Wolken. Brauner Schlamm, Moos in dunklem Grün, verblichene gelbe Gräser, weiße Möwen, alles wird eins mit der Landschaft.

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Es sind die Formen. Der Wind, der das Wasser auf der Meeresoberfläche entlangpeitscht und die Gischt der Wasserfälle nach oben jagt. Die Gräser, die sich seiner Richtung längst ergeben haben. Die Vögel, die in Scharen über die Felder ziehen. Die Wellen, in denen die Landschaft ins Meer abfällt. Die Kurven, in denen sich die Straßen in die Landschaft einfügen, und die endlos langen Geraden.

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Und es ist die Macht. Die Gewalt, mit der der Wind durch die Berge weht, dass ich mich anstrengen muss, nicht umgeworfen zu werden. Die Kraft des Hagels und Graupels, wenn er einem ins Gesicht schlägt, gegen den Körper prallt, durch dicke Schichten von Kleidung hindurch auf die Haut trifft. Die Wucht der Wellen, die immer und immer wieder gegen die Küste schlagen, bis sie sie ausgehölt haben. Die Größe der Berge, die Einsamkeit der Täler.

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Es ist die Ruhe. Dass nichts zu hören ist außer dem Sturm, der See, dem Regen, dem Rascheln der Gräser. Es ist, als läge eine Stille über allem. Als könnte man den Schnee auf den Boden fallen hören.

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Ich kann nicht aufhören, hinzusehen, hinzuhören, und ich weiß, der Tag ist kurz. In wenigen Stunden wird es wieder Nacht sein, der Sturm wird wieder an den Fenstern rütteln, der Regen wird gegen die Mauern peitschen und ich werde in einem kleinen Hotel an einem Fjord meine Nase in eine Decke stecken, die immer noch ein wenig nach Schaf riecht.

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Was bleibt, ist dieses Gefühl, schwächer, kleiner, verletzlicher zu sein als je zuvor. Und dabei die Gewissheit, keine Angst zu haben, nicht vor dem Sturm und dem Wasser, nicht vor der Nacht und nicht vor dem Alleinsein am Morgen. Und diese unendlich große Dankbarkeit, hier sein, und überhaupt, einfach sein zu dürfen.

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Am Morgen stehe ich um 05:30 Uhr auf, ich soll meinen Mietwagen in knapp 4 Stunden zurückbringen. Vor mir liegen wieder 200 Kilometer durchs Hochland und an der Küste entlang, unter Einhaltung aller Verkehrsregeln dauert das zweieinhalb Stunden.

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Es soll schneien, heftig schneien, als ich um kurz vor sechs das Hotel verlasse, liegt schon Schnee auf der Straße, vom Wind in schräge Muster verweht. Ich rauche noch eine Zigarette, der Rauch steigt in den knallschwarzen Himmel. Ich schließe das Auto auf, fahre los, minus fünf Grad, ich drehe die Heizung auf.

Oberhalb des Fjords halte ich an. Der Sternenhimmel ist so klar, die Milchstraße zieht sich wie ein weißes Band über den Himmel, ich zünde noch eine Zigarette an und ich kann es doch nicht lassen. Ich hole die Kamera aus dem Auto. Weil ich nicht anders kann. Es schneit, es stürmt, nach zwei Minuten zittere ich vor Kälte. Ich bleibe noch zehn Minuten stehen, bis ich meine Hände in den Handschuhen nicht mehr spüre.

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Es gibt so Gegenden, da ist der Mensch an sich einfach überflüssig.

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By L.

I walk fast.

8 comments

  1. Hach. Island wäre immer noch wunder schön, selbst wenn es schwarz/weiß wäre.

    Ich denke es ist OK wenn Du Dir das nächste Mal so früh in der Kälte einen Ponypullie ausleihst 😉 Aber zurückgeben, wenn Du wieder ins Auto gehst.

    Gute Reise.

  2. Toller Erlebnisbericht, wo man die Weite förmlich spürt. Und was Du meintest, die Hauptstädte sind nie so wie das Land stimmt ganz bestimmt. Manchmal ist der Schutz und das Treiben einer Metropole oder Großstadt auch genau das was wir wollen – Spannende Treiben beobachten und geschützt sein.
    Viel Spass noch auf Deinen Trip! Und nimm mal lieber ein Handy, heiße Getränke und eine Decke mit, wenn Du doch Schneestürme kurvst 😉

  3. Tolle Bilder! Danke dafür.
    War selbst schon auf Island, aber im August. Einmal um die Insel und an diversen Landschaften angehalten und Mehrtageswanderungen gemacht.
    Im Winter muss das ein ganz anderes Erlebnis sein.
    Riecht es immer noch überall nach Schwefel und faulen Eiern?
    Mir hat der Wald dann sehr gefehlt.
    Geh mal baden in den heißen Quellen. Das ist toll!

  4. Istland ist irgendwie zu jeder Zeit und bei jedem Wetter wunderschön. Das macht es noch viel faszinierender.

    Und man darf diese vierbeinigen Tiere hier AUF KEINEN FALL “Ponys” nennen, dann werden die Isländer und die Pferde selbst SEHR SEHR BÖSE. (Nur damit du das gleich weißt. 😉 )

    Dankeschön!

  5. Immerhin, ich hatte auf dem beschriebenen Trip ein Handy (samt Akkupack!), kaltes Leitungswasser und ein großes Handtuch dabei. Ist ja mal ein Anfang 😉

    Und: vielen lieben Dank!

  6. Ich werde nächstes Jahr nochmal im Sommer hinfahren und bin schon sehr gespannt, wie es dann so ist. Aber für die Gegenden um die Geysire kann ich auf jeden Fall massiven Schwefelgestank bestätigen. Das ist schon ein bisschen übel.
    Und das Baden in der heißen Quelle hab ich letzte Woche gemacht. Das war SO gut. Unglaublich schön!

  7. Ganz tolle Bilder und Eindrücke von Island! Ich war vor vielen Jahren ebenfalls auf Reisen mit meinem Wohnmobil. Die Landschaft ist herrlich. Behalte dir die Spontanität bei deinen Reisen unbedingt bei!

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