Schwalbensommer, oder: Liebenbleiben

Tief über den Gleisen hängt Nebel.

Es bleibt noch Zeit, gemächlich vor dem Bahnhof zu schlendern. Heute kommt ein Bekannter zu Besuch. 23 Uhr 27, Gleis 6, stand in seiner SMS, ich habe die Nachricht noch, sonst vergesse ich, zuerst ihn, danach mich. Der Bekannte hat braune Locken, die ihm auf die Schultern fallen, wenn er lange nicht beim Friseur war. Männer mit Locken sind großartig, und Männer mit diesem fast kitschig wilden Blick, die immer ein wenig aussehen, als hätte man sie in Schwarzweiß fotografiert.

Ich zünde mir eine Zigarette an, und schreibe ihm warte am Nordeingang auf dich. Vom Gleis abholen werde ich ihn nicht. Ich fühle mich gläsern, mein Dasein ist zerbrechlich. Groß ist meine Angst, die Symbolkraft eines vom-Gleis-Abholens könnte mich mit Wucht in Trümmer schlagen.

Ich fühle mich dem Wahnsinn näher als meinem rechten Zeigefinger.

///

Eine Bekannte fährt in den Urlaub, und ich neide es ihr. Schöne Tage am Meer möchte ich ihr wünschen, doch die Worterkennung des Telefons sagt Schöne Tage am Oder. Das gefällt mir, ich möchte auch ans Oder fahren. Ich möchte in ein Reisebüro gehen und mit einem begehrenden Tonfall sagen eine Woche ans Oder. Einzelzimmer. Mit Blick ins Grüne. Seit alle ans Ja fahren, kann man dort nicht mehr sein, und ans Nein, dahin will niemand mehr. Nein schmeißen sie einem hinterher wie sonst nur die nackte Haut im Sommer.

Vielleicht stößt mich der Anblick von Haut deswegen Jahr um Jahr stärker ab. Ich habe genug von nackten Armen, Beinen, Mündern. Ich wünsche mir einen kalten Winter mit dicken Schals, mit Gesichtern, die man nur erahnen kann, letzte Nacht träumte ich von Wollmützen. Diesen Winter fahre ich ans Oder und freue mich über Textilien. Das wird schön.

Wer ein Glashaus ist, der sollte keine Steine essen.

Und trotzdem ist alles anders, seit ich denken kann, genauer seit zweihundertsiebenunddreißig Tagen. Eine Schwalbe macht keinen Sommer, und kein Kuss macht eine Liebe. Doch ich muss einen Platz haben, an den ich zurückkehren kann, wenn der Winter kommt.

Dabei hatte ich mir doch vorgenommen, nie wieder Spuren zu hinterlassen. Keine Wimpern auf Kopfkissen, keine Lieder in Ohren. Keine Handabdrücke auf Körpern, keine Zahnbürsten in Badezimmern, keine Notizzettel und keine Handynummern. Alles, was von mir bleibt, wenn ich für immer verschwinde, sind ein Blatt Papier und eine Schere. Bastelt euch eure Erinnerungen doch selbst.

Immer wenn ich Menschen berührte, wollte ich weich und leicht sein wie eine Feder, von einem Ort zum anderen fliegen, nichts treu sein als dem Ostwind, der mich trägt. Dieser Wunsch scheiterte endgültig, als ich zum ersten Mal in seinem Bett lag. Da liebte ich mich fest. Jedes Mal, wenn ich nun gehen will, bleibe ich kleben, und reiße ich mich los, so bleibt ein Teil von mir zurück.

Alles, was ich erinnere, ist, dass jemand die Spatzen fütterte, als wir einmal im Park lagen und auf ein Wunder warteten. Er fragte wie groß muss so ein Wunder denn sein? Da sagte ich, sieh mich an, ich bin noch nicht einmal schön, aber wenigstens selten. Er lachte, hielt mir die Augen zu, und küsste meine Wange. An dieser Stelle klebt nun eine Tragik: Ein gelber Notizzettel, auf dem jemand kurz darauf unser Ende notiert hat. Es ist ein Ende in Kleinbuchstaben.

Seit Wochen verweilt die Kälte über der Stadt. Die Leute gehen vorbei, an diesem Café. An diesem Tag. Sie gehen, laufen, rennen, bleiben immer im falschen Moment stehen. Ich lege die Kuppe meines rechten Zeigefingers auf einen hellen Krümel, der einen winzigen Schatten auf die Tischplatte wirft. Rührkuchen, vielleicht, ich schiebe ihn weg, bis er von der Tischplatte auf eine Schuhspitze fällt. Dort bleibt er liegen.

Liegenbleiben. Geht man einundzwanzig Buchstaben weiter, wird daraus ein Liebenbleiben. Die weiche Schönheit dieses Wortes hüllt mich ein, sie fühlt sich wie ein kleines Liebenbleiben an. Aus manchem Liegenbleiben könnte ein Liebenbleiben werden, wenn man nur ein wenig weiter ginge.

Den Gedanken werfe ich in hohem Bogen zum Fenster hinaus. Dort bleibt er.

Erst neulich ging ich die Straße entlang. Da stand ein Auto, darin saß ein Mann. Das Auto stand zwischen diesen Blatthaufen, von denen keiner weiß, wie sie dahin kamen, und woher der Wind nur all die Blätter nimmt, und warum er sie unter Straßenlaternen auftürmt. Der Mann in dem Auto rauchte. Ich wollte mich gerne neben ihn setzen, wir hätten geraucht und dabei still auf die Straße geblickt. Und wir hätten uns nichts gefragt.

Seit zehn Sätzen betrachte ich den Staubbelag auf der Nachttischlampe. Ich fürchte das Blatt Papier, auf dem ich schreibe, ich habe Angst, es könnte mich angreifen, wenn ich ihm ein weiteres Wort zufüge. Aus Angst gehe ich duschen. Das Wasser legt sich über meine Haut wie ein Film ohne Abspann, ich versuche sein Wegstrudeln im Abfluss aufzuhalten, doch da ist nichts, was ich festhalten könnte. Meine Hände sind getränkt von den Spuren der Stadt, meine Haut ist zerschlissen vom Sturm.

Eines Tages, vielleicht auch schon, wenn die Sonne aufgeht, werde ich lügen und sagen, dass es mir gut geht.

///

Ich atme noch einmal in die Kälte der Nacht. Meinen letzten Mut kehre ich aus allen Ecken zusammen. Denn dies – ist der richtige Zeitpunkt für ein Geständnis. In Wahrheit stehe ich alleine vor dem Bahnhof, und ebenso allein werde ich nicht ans Gleis gehen. Den Bekannten mit den Locken gibt es nicht. Ich benutze ihn nur, um das Gefühl des Hoffens zu verstärken, das Gefühl, dass jemand um die Ecke biegt, ein Gefühl des zweiseitigen Freuens.

In Wahrheit

wird da nie jemand sein, auf den ich warte.

.

(Mai – Juli 2010)

By L.

I walk fast.

One comment

Leave a comment

Your email address will not be published. Required fields are marked *