Le cœur est un oiseau

Die letzten 8 Monate waren voller wichtiger und unwichtiger Termine, Gespräche, Telefonate, E-Mails, Dates und Nichtdates, Nächte in Küchen, zu viele Abschiede, zu viele Klausuren, zu wenig Schlaf, zu wenig Privatleben, Projekte, Projekte, Projekte, das war alles gut und wichtig. Und dann diese Heimwege, ein Irrlichtern zwischen leise knackenden Gaslaternen. Und all diese Entscheidungen.

All diese Lebensentwürfe, diese Pläne, wie

Papierblätter, beschrieben, geknickt, gefaltet, — und alle wieder weggeworfen, bevor sie richtig fliegen konnten.

Und diese Tage, an denen sich die Wahlfreiheit doch immer auf ein Minimum reduziert: Vanille- oder Kakao-Shampoo? Rock oder Jeans? Schwarze Strümpfe oder Netzstrümpfe? Pumps oder Sneakers? Straßenbahn oder U-Bahn, Ringbahn, Laufen oder U-Bahn, U-Bahn, U-Bahn? Kaffee, Chai Latte oder Club Mate? Ruhezustand oder Herunterfahren? Nach Hause oder weiterziehen? Vor dem Beenden speichern oder abbrechen? Weißwein oder Rotwein? Zu mir oder zu mir? Das sind diese Tage, an denen sich Freiheit plötzlich auf zwei Optionen alle 60 Minuten beschränkt. Und der Spielraum auf einmal so klein ist, dass an Spielen gar ncht mehr zu denken ist.

Derweil bewegt sich meine Konzentration schon unter gewöhnlichen Umständen ungefähr auf dem Niveau eines Dreijährigen mit hochgradigem ADHS, Bewegungsdrang und der Lust, spätestens alle dreißig Sekunden etwas Neues auszuprobieren, mit einem Ball zu spielen,  sich Legosteine in die Nase zu stecken, Kleinteile zu verschlucken, Vanillepudding mit Apfelmus zu essen oder Karussell zu fahren.

Mittlerweile jedoch ist es so weit, da hängt meine Konzentration den Tag über betrunken in Parks herum, beschimpft Passanten, wirft Stöckchen für vorbeiflanierende Hunde und deren Herrchen, tanzt Limbo unter Wildrosenhecken, schläft auf Parkbänken und bewirft Enten mit Vollkornbroten.

Meine Gedanken schlagen keine Purzelbäume mehr, meine Gedanken inszenieren die Olympischen Winterspiele. Und irgendetwas in mir fühlt sich an, als würde jemand Tag und Nacht Karamellbonbons kochen. In meinem Bauch.

Meine Gedanken in einer ganz normalen halben Stunde (und das sind nur die, die ich unauffällig mitschreiben konnte):

ich sollte einen Heißluftballon kaufen; das Land für immer verlassen; endlich die Pfandflaschen zurückgeben; ach, wie gut, dass niemand; muss noch schreiben; muss dieses Projekt fertigstellen; muss einfach mal gegen eine Wand rennen; eine Schallplattensammlung müsste man haben, eine Schallplattensammlung, das wäre schön; ich habe Gänsehaut; endlich aus Berlin wegziehen; oh, eine neue SMS; oh, eine Nachricht; oh, wie schön, ein Blog-Kommentar; was ist eigentlich Twitter? was ist der Sinn des Lebens?; Kaffee bei The Barn; Gott sein ist manchmal wirklich anstrengend; warum ist die Club Mate schon wieder leer?; vielleicht bin ich doch der geborene Aussteiger; Fleisch; ich bin Niemand und ich bin eine Insel; Pfirsichhaut; Bottrop; lalala; wannstirbtdasinternet.de; muss man eingestiegen sein, um aussteigen zu können?; brauche neuen Klingelton; Argumentationsketten gegen Monogamie;  s e h r   l a n g e  Argumentationsketten gegen Monogamie; ich könnte mir auch mal wieder die Nägel lackieren; was ist die dritte Wurzel aus 7.538?; die Hotels, die ich mir leisten wollte, kann ich mir nicht leisten, die, die ich mir leisten kann, will ich mir nicht leisten; wenn die Vorderseite des iPhones zersplittert ist, kann man es nicht mehr als Spiegel benutzen; der Erfinder des Smartphones war ein kluger Mann, der begriffen hatte, dass niemand mit einem Telefon telefonieren will; niemand will telefonieren; ich brauche Urlaub; vermutlich hat der, der den Sinn des Lebens erfunden hat, nicht bedacht, was passiert, wenn wir alle unsere Zeit vor allem dafür nutzen, uns gegenseitig auf den Sack zu gehen; Aprikosen-Rosmarin-Scones; Hunger; Durst; Kaffee ist auch keiner mehr da; oh, eine neue Nachricht, gleich mal antworten; oh, gleich mal was bei Facebook posten; nur noch schnell ein neues WordPress-Theme installieren; nur noch schnell einen Text schreiben; und

nur noch schnell schreiend im Kreis laufen. 

Und dann plötzlich die totale Überforderung bei dem simplen Versuch, eine Reise zu buchen, eine Reise, die in ungefähr 30 Stunden beginnen soll und von der seit 3 Wochen nichts klar ist, außer, dass sie stattfinden muss, diese Ratlosigkeit zwischen Urlaubsportalen, Last-Minute-Portalen, Super-Last-Minute-Portalen, Flugvergleichsportalen, Hotelsuchportalen, Urlaubsbewertungsportalen, nixwiewegabindenurlaublastminutedingsvergleich.de, überall diese Idiotie, bei jeder Suchanfrage aus “2 Erwachsene” jedes verdammte Mal “1 Erwachsener” machen zu müssen. Und immer dieses fixe Bild im Kopf —

diese endlose Sehnsucht nach einer kleinen Hütte am Strand, in der es nichts gibt außer einem Bett und einer Steckdose und einer Dusche und jemandem, der einem einen Korb mit Essen für eine Woche vor die Tür gestellt hat, als man ankommt.

Ich kann keinen geraden Satz mehr formulieren, geschweige denn einen schönen Satz, der in eleganten Kurven durch die Landschaft gleitet, die ich in Ihrem Kopf baue, ich baue überhaupt nichts mehr, außer vielleicht ab, und das muss viel heißen, vor allem heißt es, dass mein Kopf leer ist. Leergelebt.

Und dann dieses hungrige Herz.

Ich weiß nicht, wohin ich gehe,

ich weiß nur, es wird irgendwo sein, wo ein Bikini wichtiger ist als alles andere.

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