Alle Farben dieser Welt. Eine Novembergeschichte.

Es war einmal in einem Wald nicht weit weg von hier im elften Monat des Jahres, und der kleine Fuchs lag vor seinem Bau und machte sich Gedanken. Manchmal sah er zwischen den Bäumen in seinem Wald nach oben und schüttelte den Kopf. Er machte sich noch mehr Gedanken, und als die Gedanken sehr viele waren, stand er auf, schüttelte sich, putzte sein Fell, und machte sich auf den Weg ins Innere des Waldes, denn dort, wo der Wald am dichtesten und dunkelsten war, wohnte der große, kluge Fuchs, der alles wusste.

Nach einem langen Weg durch den Wald kroch er durch ein letztes Dickicht, die Zweige unter seinen Pfoten knackten, kleine Dornen piekten in sein Fell, plötzlich war das Gebüsch zu Ende und er – war da.

Da sah er schon den großen Fuchs: er lag vor seinem Bau, die Augen geschlossen, und als er den kleinen Fuchs herantapsen hörte, hob er nur kurz eine Augenbraue. Und brummte mit seiner tiefen Stimme: “Kleiner Fuchs, was führt dich zu mir?” 

Der kleine Fuchs war noch ganz außer Atem vom Laufen, und er war sehr aufgeregt, und dann sagte er: “Ich … ich … ich … ich möchte dich etwas fragen.”

Da setzte der große Fuchs sich auf, streckte sich und nickte dem kleinen Fuchs zu. “Setz dich zu mir. Und dann sage mir, was du zu sagen hast.”

Der kleine Fuchs holte tief Luft. “Sag, großer Fuchs, weißt du, warum der November so grau ist?”

Da lächelte der große Fuchs. “Der November ist nicht so grau wie du denkst, mein Kind. Sieh doch die Bäume, manche von ihnen tragen noch bunte Blätter auf ihren Zweigen. Und sieh die Büsche am Waldrand, in denen rote Hagebutten und dunkelblaue Schlehen hängen.”

Der kleine Fuchs überlegte. Dann sagte er: “Aber was ist mit dem Himmel? Morgens zeigt er sich erst ganz spät, schon am Nachmittag verschwindet er. Und in den wenigen Stunden, in denen er zu sehen ist, ist er grau, grau, nichts als grau. Sag mir, warum der Novemberhimmel so grau ist.”

Der große Fuchs antwortete: “Mein Kind, verrate mir doch zuerst, wie alt du bist.”

“Fünf. Ich bin schon fünf Jahre alt, und ich bin schon ganz groß.”

Der große Fuchs lachte. Dann sah er den kleinen Fuchs an. “Fünf Jahre hast du also schon erlebt, und ich bin mir sicher, du erinnerst dich an jedes von ihnen. Du kennst auch die Monate, und du kennst die Himmel, die sie tragen.

Du kennst den Januar, in dem dicke Schneeflocken ganz langsam zu Boden fallen. Du weißt vom Februar, in dem die ersten Wolken am Himmel davon erzählen, dass bald der Frühling kommen wird. Du kennst den März, wenn Musik in der Luft liegt, den April mit seinen Launen, die Gewitter und Regen und Sonne auf den Himmel malen. Den Mai, wenn Blütenblätter in der Luft tanzen, den Juni, in dem es schon nach Sommer riecht und Herden von Schäfchenwolken übers Blau wandern. Du weißt vom Juli, wenn die Sonne dein Gesicht wärmt, vom August, in dem die Sternschnuppen nachts über den Himmel fliegen, und vom September, wenn der Wind die ersten Blätter von den Zweigen weht. Du kennst den Oktober, der kalten Herbstregen durch die Luft peitscht, und du kennst den Dezember, in dem der Himmel selbst bei Tag nachtschwarz ist, und die ganze Welt für einen Monat ihren Winterschlaf hält.

All diese Monate haben ihre eigenen Farben, ihre eigenen Himmel, die ihre eigenen Geschichten erzählen. Sie erzählen uns von dem, was war, was ist, und von dem, was noch kommt. Manche von ihnen sind ganz laut, andere leise, und alles, was wir tun müssen, ist, unsere Ohren offen zu halten, damit wir sie hören können.

Der Novemberhimmel aber, mein Kind, der Novemberhimmel ist anders.

Er verändert sich nie. Niemals sind Wolken zu sehen, niemals die Sonne und selten nur ein Stern und ein Mond. Jeden Tag ist er gleich, immer trägt er das selbe Grau, nur manchmal ist es ein wenig lichter, ein andermal ein wenig dunkler als sonst. Aber es ist immer nur grau.

Wenn es Abend wird, legt sich das Grau vom Himmel auf die Erde, es kriecht als Nebel über die Wiesen und zwischen den Bäumen hindurch, und wenn du morgens aufwachst, ist alles zugedeckt und im Nebel versunken.

Der Novemberhimmel hat nur eine Farbe, damit dort ganz viel Platz ist, von Horizont zu Horizont. Denn er erzählt keine Geschichte. Er ist ein großes, leeres Blatt Papier, auf das wir unsere eigene Geschichte schreiben können.

Alles, was du tun musst, kleiner Fuchs, ist, deine Augen schließen und dir die Geschichte ausdenken, die du auf den Himmel schreiben willst. Du kannst dafür alle Stifte nehmen, du kannst Bilder malen, in allen Farben dieser Welt, du kannst dort Vögel fliegen und Sonnen scheinen lassen und kleine Sterne für die Nächte. Und wenn der Monat vorbei ist, wird der Himmel nicht mehr leer und grau sein.

Der Novemberhimmel ist so besonders, weil er anders ist als alle anderen Himmel im Jahr. Weil er ganz genau so sein kann, wie du es willst.”

By L.

I walk fast.

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