Vom Schreiben

Schreiben also.

Warum, wenn man doch in der selben Zeit auch angeln, Freundschaftsbänder flechten, Briefmarken sammeln, Ritterspiele besuchen, sich gesund ernähren, prokrastinieren, was mit Medien machen, das Tafelsilber polieren oder die Encyclopaedia Britannica auswendig lernen kann? Warum?

Darum:

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Einen Text schreiben

Einen Text schreiben, das ist, auf die Jagd gehen, sie einfangen und ihre Herzen auf einen großen Haufen türmen und sie entzünden mit nur einem Wort.

Einen Text schreiben, heißt, sie ausziehen und ihnen ihr letztes Hemd nehmen, unter ihre Haut kriechen, ein leises Gift sein und eine leise Medizin, in Tropfen wirken und sich langsam vorarbeiten, bis ihre Herzen explodieren.

Einen Text schreiben, das ist, sie satt machen und sie einen neuen Hunger lehren, einen Hunger, so groß, dass sie ihn niemals stillen können, ihre Droge sein, ihr Rausch und ihr Erwachen am Morgen danach, die Hautpartikel unter ihren Fingernägeln und das Pflaster auf ihren Herzen.

Einen Text schreiben, ist, die Kälte unter ihren Jacken sein, die unendliche Furcht in ihrem Herzen und die knarzenden Dielen. Es ist, sich anschleichen, wenn es dunkel wird und das letzte Licht erlischt. In tiefster Nacht die Schritte hinter ihnen sein, die Stimme, die flüstert, die leichte Berührung auf ihrer Schulter, die sie herumfahren lässt. Die Hand vor ihren Augen, das Pochen in ihren Herzen, der Puls, der immer schneller wird und die Gänsehaut, die ihre Rücken hinaufkriecht.

Es ist, aufs höchste Dach der Stadt steigen und tanzen auf dem First, eine Pirouette auf dem Drahtseil ohne Netz und Sicherung und fliegen ohne Fallschirm, die Arme ausbreiten und vom Hochhaus springen und durch die Stadt jagen. Es ist allein auf einer großen Bühne stehen vor einer wartenden Menge, ohne zu wissen, was als nächstes geschieht, es ist übers Land fahren und den Kopf in den Nacken legen und den Atem anhalten und nie wissen, wie lange noch Luft da ist.

Einen Text schreiben, das ist verschwinden hinter einer Wand aus Worten, die zu einem Haus wird, zu einem Dorf und einer Stadt, zu einer Metropole. Es ist, in unbekanntes Gebiet gehen ohne Karte und Kompass, die Machete nehmen und Löcher ins Gebüsch schlagen und ein Stück Himmel bauen mit einem Messer. Es ist, der erste sein, der in diese Richtung geht, einen Trampelpfad mit nackten Füßen gehen, Wege bauen und Straßen pflastern und Routen zementieren. Einen Text schreiben ist, das Wasser in allen Wolken sein, die Erde unter ihren Füßen, der Staub auf ihren Wimpern und der Wind in ihren Haaren.

Einen Text schreiben, das ist, ein Gewehr laden mit Buchstaben und Satzzeichen, mit Worten schießen wie mit Kanonen, und wo man sie abgeschossen hat, lassen sie sich nieder, und dann ist es das Hoffen, dass sie dort fallen, wo jemand ihnen Luft und Boden gibt; das Hoffen, dass es wächst.

Es ist Blumen pflanzen für die Schmetterlinge und eine Landebahn bauen für die Flugzeuge in ihren Bäuchen, das ist, ihnen die rosarote Brille aufsetzen und sie mitnehmen bis zum Ende von Wolke sieben und mit ihnen fliegen, wo Raum und Zeit nicht existieren.

Einen Text schreiben ist, die Menschen sehen und sie beobachten, sie mit Blicken von dem trennen, was sie sagen, von dem trennen, wer zu sein sie vorgeben, einen Text schreiben, heißt, sie sezieren mit einem einzigen Blick und in ihr Innerstes sehen und erkennen, wer sie in Wahrheit sind. Einen Text schreiben, ist, ihre Augen sein und ihr Herz, ihre Fingerspitzen und ihre Fußsohlen, ihre Muskeln und ihre Sehnen, sie spüren und sich in ihr Innerstes bohren, sie hören und taub sein für alles, was sie sagen, ihnen alles nehmen, was sie haben und dann ausholen und ihre Welt mit Schwung zertrümmern, und sie ganz langsam wieder neu bauen.

Einen Text schreiben ist, ihnen neue Augen geben und ein neues Gefühl für ihre Hände und eine neue Haut, einen Text schreiben, heißt, sie die Größe der Dinge und die Winzigkeit ihrer selbst spüren lassen, sie wachsen lassen und sie größer machen als sie je waren. Einen Text schreiben heißt, unauslöschliche Spuren in ihnen hinterlassen.

Einen Text schreiben, das ist sich ausziehen, sich Knopf um Knopf um Knopf um Knopf um Gürtel um Schuh um Schuh, sich seiner Socken, seiner Hose, seiner Wäsche, seiner Bedenken zu entledigen. Es ist ein Striptease im Kopf, zu einer Musik, die keiner hört, zu einem Rhythmus, der ihnen den Atem nimmt, mit einem Titel, der harmlos scheint, mit einer Melodie, die sich in ihre Köpfe frisst und einem Bass, der ihnen in den Magen fährt. Einen Text schreiben, das ist zum Schluss die Brille ausziehen und nackt sein und daliegen und nicht wissen, wer einen betrachten wird, wie man da liegt.

Einen Text schreiben ist, sich selbst das Herz herausreißen und es wieder umgekehrt einsetzen und sehen, was passiert, es ist, einen Kopfstand machen, damit etwas aus einem herausfällt, es ist, sich verrenken und geraderücken, es ist: alles sein, was man sein kann, und noch mehr, was man niemals werden kann, und es ist, wenn keiner es merkt, für einen Wimpernschlag man selbst sein, und niemals preisgeben, was in diesem Moment geschah.

Einen Text schreiben, ist, sich raushalten aus allem und reinwerfen in alles, was man schreibt, es ist: gut sein und böse, die Schöne und die gute Fee, das Biest und die Monster unter ihren Betten. Einen Text schreiben ist leiden und sehnen und das Fürchten lernen und sie in die Hölle mitnehmen, damit sie einen Blick auf den Himmel werfen können.  Einen Text schreiben heißt, stark sein und schwach sein, lieben und das, was man liebt, aufs Tiefste hassen, schnell sein und behutsam, die Dinge in Zeitlupe sehen und gleichzeitig vorspulen, die Buchstaben zart berühren und mit den Fingerspitzen formen, sie zu Wörtern machen und sie mit Wucht zu Sätzen bauen.

Einen Text schreiben heißt, sich entzünden, um ihre Herzen zu entflammen, sich aufgeben, um sie zu gewinnen, laufen und kämpfen und sie besiegen, den blinkenden Cursor und die leeren Blätter, die Feinde in seinem Kopf und seinem Körper, immer glauben, immer vertrauen, immer zweifeln und niemals sicher sein.

Einen Text schreiben heißt leise und laut, nah und wild sein, verrucht sein und zärtlich, sie locken und an sich heranlassen und sich im letzten Moment umdrehen und gehen, sie streicheln und ihre Rücken zerkratzen, die süßesten Wörter in allen Sprachen der Welt in ihre Ohren flüstern und sie in den Hals beißen, sobald sie sich in Sicherheit wägen. Es ist ein unendlicher Kuss, der sie alles vergessen lässt, bei dem alles außen herum und die Welt verschwindet und sie nichts mehr spüren als das, was sie spüren sollen.

Einen Text schreiben, ist, sich unendlich verlieben und fallen und wieder aufstehen und weiterrennen und irgendwo am Horizont die Liebe sehen wollen, weil man sie sehen will, es heißt, weitergehen, damit die Geschichte weitergeht, einen Text schreiben, ist, alles tun, damit der Urknall niemals endet.

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2 comments

  1. Hi Lena,

    seit einiger Zeit lese ich immer wieder gern deinen Blog, den ich sehr inspirierend finde. Worte sind wirklich dein Werkzeug.
    Ich hab gesehen, dass du aus Berlin kommst, von daher möcht ich dich einladen, dir meinen neuesten Blogartikel anzugucken. Da gehts auch um Berlin…Mich würd mal interessieren, wie du das siehst…

    “Berlin, ich krieg’ Herzklopfen, wenn ich dich seh'”

    http://gimmesomewords.blogspot.de/

    Viele Grüße aus Bayern,

    Kathi

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