“Wir wünschen Ihnen alles Gute, auch privat.” Ich werfe den Brief ins Eck. In dem selben Eck liegen auch schon Schreiben von meiner Krankenkasse, dem Finanzamt, der Bank, mein Schweizer Taschenmesser und ein ungeöffneter Brief von einer verflossenen Liebe, bis heute ist nicht klar, ob es jemals Liebe war, was wir uns da einbildeten, der Brief wird daran nichts mehr ändern. Unter den Briefen und dem Taschenmesser liegt Staub. Ich weiß, dass er dort schon seit bald zwei Jahren liegt, denn er liegt da, seit ich in die Wohnung einzog und den ersten Brief gleich am Tag meines Einzugs dort hinwarf.
Ich mag Ecken. Meine Wohnung hat viele davon, ungefähr fünfundzwanzig, und in jeder sind Dinge passiert.
In der allerersten Ecke, die man sieht, sobald man die Wohnung betritt, haben Kati und Paul sich kennengelernt, irgendwann haben sie geknutscht und ungefähr fünf Minuten später waren sie zusammen. Das war bei meiner Einzugsparty und zusammen sind sie immer noch, nur in der Ecke haben sie schon lange nicht mehr gestanden und geknutscht, dort steht jetzt ein Garderobenständer, den küsst niemand.
Bei einer anderen Party zwei Monate später klingelte es gegen halb vier morgens an der Tür, ich rechnete mit Polizeibeamten und erschrak gehörig. Ich habe ein wenig Angst vor Polizeibeamten, das liegt nicht an den Beamten, sondern an einem Trauma aus meiner Vergangenheit in Österreich. Die Polizeibeamten dort sind nicht sehr nett, ich glaube auch, dort foltern sie auch auf den Revieren Leute, die ihren Umzugswagen nicht ordnungsgemäß parkiert haben, so heißt das da, und sie werden besonders lange gefoltert, wenn sie Piefkes, Deutsche, sind. Es war also halb vier, es klingelte, und weil ich Angst vor Polizeibeamten habe, holte ich meinen besten Freund, das dauerte, da er mit einem Bier in der hinterletzten Ecke stand und es ein wenig dauerte, bis ich ihn dort aufgetrieben hatte (es war ziemlich dunkel, auf der Party) und ihn mit zur Tür nahm. Ich öffnete. Draußen stand nicht die Polizei. Draußen stand — niemand. Ich sah nach unten, und in einer Ecke des Türrahmens stand eine Flasche Wein, daneben lag eine Karte, ich schickte den besten Freund samt seinem Bier nach drinnen und las, denn auf die Karte hatte jemand etwas geschrieben und die Flasche Wein versteckte ich in einer Ecke zwischen Kühlschrank und Küchenregal und holte sie erst hervor, als ein paar Tage später da war, dessen Handschrift die Karte trug.
Es gibt eine Ecke, in der lag ein halbes Jahr lang ein anderer Brief, den ich nicht öffnen wollte, weil ich wusste, was darin stand, ich hätte ihn also einfach öffnen können, einfach aufreißen, oder den Brieföffner benutzen oder einen der Schlüssel an meinem Schlüsselbund, dann wäre er aber offen gewesen und ich hätte ihn lesen müssen, also tat ich es nicht. Ich wollte es nicht lesen. Irgendwann warf ich den Brief weg. Seitdem ist die Ecke leer.
Die Ecke unter dem Fenster, das am weitesten von der Wohnungstüre entfernt ist, ist die Ecke der Geständnisse. Ich weiß nicht, wie es dazu kam, dass es genau diese Ecke ist, das Fenster, an dem sie sich befindet, ist nicht gut abgedichtet, wie das bei einem Fenster in einer Berliner Altbauwohnung sein muss, deshalb zieht es dort immer ein bisschen, besonders im Winter, da zieht es ein bisschen mehr. Die meisten Geständnisse dort fanden im Winter statt. Es ist eine Ecke, die schweigen kann.
Dass ich wahrhaft äußerst talentiert in vielen Dingen bin, darunter auch das recht ungeschickte Erzeugen quasi unmöglicher Flecken an unmöglichen Stellen, davon zeugen gleich mehrere Ecken: da wäre die eine, in der gleichmäßig verteilt braune Teigkrümel an der Wand kleben, das war, als ich Brownies buk und das Rührgerät versehentlich etwas zu schnell aus der Rührschüssel zog. Dann wäre da die eine, gegenüber der verschwiegenen Ecke, in der ein sehr, sehr (sehr!) großer blauer Fleck an der Wand prangt, bevor er an der Wand trocknete blau wurde, war der Fleck noch Wein und rot und Inhalt eines Glases, ich glaube, ich war gestolpert (zum Fleck besitze ich auch die passende Bettwäsche, bei Interesse bitte Nachricht an mich).
Es gibt außerdem eine Ecke, die mir wirklich ein wenig peinlich ist. Und das kam so: ich kaufte in einem Anfall geistiger Umnachtung eine Neon-Ausgabe. Das an sich war schon ein Fehler, den ich länger nicht beging, Magazine, die permanent um eine heteronormative Pärchenwohlfühlwelt kreisen und deren Reportagen da, wo’s wehtut, nicht einmal mehr als Feigenblatt dienen, braucht kein Mensch. Und hätte ich diese Neon damals nicht gekauft, wäre das alles nicht passiert. Was passierte? Es fiel ein Glas Wasser um. Im Allgemeinen eher kein Problem, es sei denn, das Glas Wasser fällt über Opas Blaue Mauritius, die gerade auf dem Kamin liegt, und man muss sich dann die Frage stellen, wie man eine Kachel aus dem Kamin schlägt und in welchem Briefmarkenalbum man eine Marke unterbringen kann, die 2 Zentimeter dick und 300 Gramm schwer ist. Nun fiel das Glas aber nachts um, vermutlich träumte ich wild, jedenfalls bemerkte ich es nicht, und als ich tags drauf das Magazin entfernen wollte – ging es nicht mehr weg. Jedenfalls weiß ich seitdem, dass die Farben, mit denen Neon-Deckblätter bedruckt sind, sich ganz formidabel mit Dielenböden verbinden. Und in der Ecke klebt nun das Negativ einer Neon. Für immer.
Von der Wohnungstür aus gezählt die siebte Ecke, dies ist die Ecke, in der einmal die Liebe wohnte. Die Liebe ist weggezogen, sie wohnt jetzt dort, wo die großen Schiffe wohnen. In einer anderen Ecke woht jetzt noch ein Teil ihrer Möbel, als käme sie eines Tages eben so zur Tür hereinspaziert, baute ihr Bett auf und bliebe einfach hier.
In einigen weiteren Ecken hängen Gedichte, jedes von ihnen hängt da mit Grund, eins davon ist “Die Traumfrau” von Bukowski, das andere ist von Albert Ostermaier, es heißt “abtropfen”, es ist eins der wenigen Gedichte, die ich auswendig kann, es beginnt so: wenn unsre lippen augen haben / hör besser auf mich anzusehn / und schmink dir diese blicke ab / die an mir kleben bleiben. Und dann geht es weiter.
Dass ich einen Hang zum Feuer habe, ist allenthalben bekannt. Bislang den meisten unbekannt war, dass bei einer erschreckend großen Anzahl von Verabredungen jedweder Art Dinge in Flammen aufgingen. Den Rest der Geschichte erzählen die diversen Ecken, in denen der Lack von den Dielen qua Feuereinwirkung aufgeplatzt ist und angekokeltes Holz heraustritt.
Einmal hatte ich Besuch, für eine Woche. Es war die schlimmste Woche meines Lebens. Seit dieser Woche habe ich nicht nur Angst vor Polizeibeamten, obwohl in meiner Wohnung noch nie ein Polizeibeamter gewohnt hat. Aber Katzen haben hier gewohnt. Die Katzen betrachteten mich von unserer ersten Begegnung an meiner Wohnungstür an als Feind, den es auszurotten galt. Und meine Wohnung als ihr Revier. Sobald sie aus ihren Katzenkörbchen befreit worden waren, hockte eine Katze in einer Ecke hinter dem Klavier, die andere Katze unter dem Kachelofen und ich sah sie zunächst nicht wieder. Ich stellte ihnen täglich Futter hin und Wasser und bewegte mich nur noch auf Zehenspitzen und, wenn möglich, gar nicht. Dann fingen sie an, ihr Revier zu erweitern. Ab da mied ich meine Wohnung, arbeitete bis Mitternacht und verbrachte ganze Nächte in schäbigen Bars, in denen viel Alkohol ausgeschenkt wurde, ich übernachtete bei fremden Männern, kurz: ich tat alles, um die Katzen nicht durch meine Anwesenheit zu stören oder ihnen dauerhafte psychische Schäden zuzufügen. Ich war binnen weniger Stunden ein Eindringling in meiner eigenen Wohnung geworden und wartete eigentlich nur noch darauf, dass ich eines Morgens nach Hause käme, mein Schlüssel nicht mehr passte und eine gepackte Reisetasche mit dem Nötigsten (also einer Zahnbürste und einem Haargummi) vor meiner Tür vorfände. Das war der Tag, an dem die Katzen wieder auszogen und in acht Ecken große Büschel dunkler Katzenhaare hinterließen.
Seitdem habe ich Angst vor Katzen und immer, wenn ich eine in der Nähe sehe, verstecke ich mich unter dem Kamin. Sie können mir alles nehmen, das Klavier, das Bett, die Kekse in der Küche, aber nicht die wärmste Ecke, die es in dieser Wohnung gibt!
Ein freundliches Leseerlebnis am Morgen. Danke schön.