Wissen ist ein flüchtiger Klebstoff.
Ich hatte ein neues Bild gemalt. Es wurde erste Bild, das ich unten rechts signierte, ich stellte es bei einer Online-Auktion ein. Er war Bieter Nummer 7, er bekam den Zuschlag und ich mehr Geld als gedacht. Ich machte noch ein Foto davon, schlug es vorsichtig in Papier ein, brachte es zur Post, versicherter Versand, erhielt eine automatische Empfangsbestätigung.
Vier Wochen später in meinem Postfach: eine vorsichtige Nachricht, die sich liest wie ein leises Anklopfen an einer Tür, von der man nicht weiß, was sich dahinter verbirgt. Er fragt, ob er mir schreiben dürfe. Ich weiß nicht, was ich antworten soll und sehe mir an, was er bisher so alles ersteigert hat. Klamotten, Platten, Flohmarktkram. Ich antworte: Ja. Als ich am Abend darauf nach Hause komme, wieder eine neue Nachricht von ihm.
Darf ich Dir erzählen, was mir durch den Kopf geht, wenn ich das Bild sehe? Warum ich es unbedingt haben musste?
Ich will ihm seinen Spaß nicht verderben, tippe wieder ein kurzes Ja und klicke die Nachricht weg. Ich will das alles doch gar nicht wissen, ich bin gerade ausreichend beschäftigt damit, die Scherben meiner letzten Beziehung zusammenzukehren. Wochenlang höre ich nichts mehr von ihm. Dann eine neue Nachricht. Diesmal mehrere Seiten lang. Er schreibt von dem Bild, von erfüllten Wünschen, von Ideen, die er abgehakt hat, und von durchkreuzten Plänen. Von Hunger, Sehnsüchten. Von Farben, von Hass, Wut, Trauer, viel Gefühl. Mit erbarmungsloser Offenheit.
Erst lese ich widerwillig, dann kann ich nicht mehr aufhören, wie bei einem Buch, das man erst liest, weil man es muss, und das einen plötzlich packt. Die Nachricht lässt mich fassungslos zurück. Aber antworten kann ich ihm nicht. Drei Wochen lang bin ich danach damit beschäftigt, mein Leben neu zu ordnen. Dann beschließe ich, dass die letzte zerbrochene Beziehung auch meine allerletzte gewesen sein wird. Und antworte ihm.
Die Straßenbeleuchtung geht gerade aus, als ich mich früh morgens ins Auto setze. Allein drei Nachtigallen in einem Baum machen noch lange keinen Frühling, doch eine Ahnung vom Ende des Winters hängt in der Morgendämmerung zwischen zwei Straßenzügen. Nach vier Stunden Fahrt parke ich vor einem hässlichen, ockergelben Hochhaus, das nur die Morgensonne in ein schönes Licht tauchen kann. Ich lasse meine Zahnbürste im Auto, schließe es ab, gehe zwei Stufen hoch zum Eingang und läute an der Haustüre. Ein Summen, ich drücke, und gehe langsam die Stufen hoch. Er wohnt im zweiten Stock.
Er steht schon in der Türe, er ist hübscher als auf den körnigen Handyfotos. Ich beobachte seine Mimik. Für einen winzigen Augenblick eine Irritation in seinem Blick, er sieht mich noch einmal an. Und eine kleine Enttäuschung liegt zwischen uns auf der Fußmatte. Wie einen alten Schuh tritt er sie mit einer Fußbewegung zur Seite, bittet mich herein, hängt meine Jacke an die Garderobe, gießt Kaffee in zwei Becher, setzt sich zu mir an den Küchentisch. Und dann reden wir, reden, reden, reden. Gehen in die Stadt, schlendern am See entlang, und versuchen, sie zu verstehen. Diese Vertrautheit in der Fremde. Diese Verwirrung, jemanden zu sehen, einen Unbekannten, dessen Innerstes man so gut kennt. Ich versuche, alles, was ich aus seinen Nachrichten und den Telefonaten mit ihm weiß, dazu seine Mimik, seine Gesten, seine Bewegungen, seinen Körper, zu einem Bild zusammenzufügen. Ich habe ein Kratzen im Hals, wenn ich schlucke.
Er hatte mir immer von seinem Lieblingsfilm vorgeschwärmt, wollte ihn mir gerne zeigen, wir setzen uns auf sein Sofa, er legt die DVD ein. Ich trinke Bier und mir ist kalt in seiner Wohnung, er wirft eine dicke Wolldecke über mich. Die Decke ist zu groß für einen.
Magst du auch ein Stück Decke?, frage ich. Noch nicht… nachher vielleicht.
Der Film wird traurig und dunkel, ich will mich bei ihm anlehnen, er sitzt viel zu weit weg. Ich schweige und starre auf das Flimmern des Fernsehers, werfe einen Blick nach rechts. Er starrt geradeaus, sein Gesicht ist erhellt von den Farben des Films. Ich betrachte die einzige Topfpflanze auf seiner Fensterbank und fühle mich für einen Moment mit ihrem Alleinsein verbunden. Da zieht es an der Decke, er kriecht doch mit darunter. Nur noch eine Handbreit Abstand zwischen uns. Ich rutsche in Zeitlupe ein Stück näher zu ihm, bis sein Bein nah an meinem liegt, es berühren könnte. Könnte.
So sitzen wir, die Beine auf einen Hocker gelegt, blicken auf den Fernseher. Und keiner sagt ein Wort. Ab und an trinke ich einen Schluck Bier und frage mich alles, aber ihn nichts, er sitzt direkt neben mir und ist doch so weit weg. Eine Irritation lehnt im Türrahmen und sieht auf uns herab, sie trägt ein schwarzes Kleid und zieht fragend eine Augenbraue hoch. Wir tun so, als hätten wir sie nicht gesehen, starren weiter geradeaus, ich weiß nicht, wohin mit meinen Händen, pule das Etikett von der Bierflasche ab, rolle es zwischen meinen Händen hin und her, zerreiße es zu Konfetti und halte mich an der nackten Flasche fest, bis das Bier warm wird. Warmes Bier schmeckt nicht.
Ich mag ihn. Sehr sogar. Auch, wie er so neben mir sitzt, wie gedankenverloren und abwesend, er kennt den Film ja eh schon, wahrscheinlich langweilt er sich einfach. Da rutscht er langsam noch ein Stück näher, legt seinen Kopf an meine Schulter und fragt, ob ich auch so müde sei, seine Augen sehen müde aus. Kurz darauf schläft er schon halb, kuschelt sich an mich. Nickt ein, wacht wieder auf, dreht sich ein Stück seitlich, murmelt hast du’s bequem? Geht’s dir gut? Ich nicke nur. Sein Kopf liegt unterhalb meiner Schlüsselbeine, rutscht noch ein wenig abwärts. Er ist ganz eingeschlafen. Ich könnte über sein Haar streichen.
Später liegen wir im Bett, mein Kopf in seinem Arm. Ich hatte seit Monaten keinen Schlaf, bin ein Schatten meiner selbst.
Zehn Stunden später erwachen wir.
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Sommer in der Stadt ist ein Brutkasten voller Taubeneier.
Irgendeine Party in irgendeiner Wohnung am Rande der Stadt. Ich bin alleine dort, er auch, wir begegnen uns im Türrahmen und bleiben dort stehen. Er ist aus Frankreich und zu Besuch hier und er interessiert mich eigentlich nicht. Ja. Er sieht gut aus. Ich weiß das. Und ich weiß, dass er das weiß. Es ist schon spät, schon weit nach Mitternacht. Wir reden, ich versuche, mich an die Reste meines Schulfranzösisch zu erinnern. Seine Augen reden mehr als seine Stimme, irgendwann begreife ich, was es ist, das mich so irritiert. Schon in seinen Augen liegt Sex, nichts als Sex, versehen mit einem Ausrufezeichen, ich weiß nicht, was ich mit ihm anfangen soll, es ist eine heiße Sommernacht, die Art, wie er mich fixiert, lässt meine Knie weich werden, ich kann mich nicht konzentrieren, leere mein Weinglas in einem Zug, entschuldige mich hastig, reiße mich von seinem Blick los und verschwinde in der Küche. Ich brauche mehr Wein.
Zwei Tage später. Facebook. Eine Nachricht von ihm. Er fand mich bei den Partygästen in der Facebook-Einladung und ist schon wieder zuhause. Ich antworte wortweise und kämpfe mit den französischen Sonderzeichen auf der Tastatur, ringe mit jedem Wort, forme Sätze tropfenweise, langsam finde ich mich in der Sprache wieder zurecht. Bald schreiben wir mehr. Wenig Persönliches, ein Austausch von Floskeln über Städte und Wetter. Wir bleiben Fremde. Irgendwann telefonieren wir trotzdem. Nächtelang. Ich will nichts von ihm. Aber seine Blicke verfolgen mich, seit wir uns sahen. Und da liegt etwas in seiner Stimme, zwischen Ein- und Ausatmen, mit dem er mich verrückt macht. Bald reden wir nicht mehr übers Wetter.
Mir ist heiß, ich muss etwas trinken. Ich laufe nackt durch die Wohnung, mein Blick fällt auf die Küchenuhr, o3:48. Es ist schwül, durch die weit geöffneten Fenster weht ein leichter Sommerwind, irgendwo draußen heult ein Motor auf. Er räuspert sich, noch ein wenig atemlos:
– Bist du noch da?
– Hmmh.
– Rauchst du noch eine mit mir?
Ich ziehe ein T-Shirt aus dem Schrank und finde Shorts auf dem Boden, setze mich aufs Fensterbrett. Das Telefon klemme ich zwischen Ohr und Schulter. Vom ersten Zug wird mir angenehm schwindlig, das post-orgasmische Kribbeln in meinem Körper potenziert sich. Wir schweigen, ich höre, wie er den Rauch in die Luft atmet. Ich lehne mich an den Fensterrahmen, blicke über den Fluss unterhalb der Straße. Unter meinem Fenster läuft eine Gruppe Jugendlicher vorbei. Sie bemerken mich nicht.
– Bist du noch da?
– Mmh.
– Ich geh schonmal wieder ins Bett. Du auch?
– Gleich.
Ich will noch hier sitzenbleiben, ziehe lange an der Zigarette. Die Asche fliegt mit dem Wind einige Meter weit Richtung Fluss. Der Mond scheint zwischen den Zweigen der Pappeln in mein Schlafzimmer, ein paar Sterne liegen am stadthellen Nachthimmel. Ich lege meinen Kopf in den Nacken. Eine tote Taube liegt auf dem Radweg, der Wind kräuselt das Wasser auf dem Fluss, der Sommer schläft für eine Nacht in allen Gassen, bevor er in drei Stunden wieder erwacht und die Häuser in seine Wärme taucht. Von meinen Zehen her kriecht eine Traurigkeit in mir hoch. Ich will sie nicht sehen, blinzle mehrmals, schnell, drehe meinen Körper weg vom Fenster nach innen. Meine Zehenspitzen berühren den Boden. Ich nehme das Telefon in die Hand, laufe zum Bett zurück, seine Stimme ist ganz leise.
– Gehst du jetzt auch ins Bett?
– Ja.
– Geht’s dir gut?
– Hmmh.
– War schön mit dir.
– Mmh.
Mir ist nicht nach Reden. Ich bin müde. Und ich habe keine Lust auf die Beweihräucherung dieses Rituals, das wir seit Wochen pflegen: Er schickt eine SMS, ob ich Zeit habe, schreibe ich zurück, ruft er an, wir reden kurz über Belanglosigkeiten, heucheln Interesse, wie gehts dir?, – gut, – mir auch, haben Telefonsex, legen auf, schlafen ein.
896 Kilometer. Wie weit würdest du gehen?
Ich bin müde. Und habe das Telefonieren satt. Wir hängen uns zu zweit an einer Illusion auf, so lange, bis dieses Kartenhaus, auf dem wir stehen, unter uns zusammenbricht, bis der Strick aus Realität uns die Luft abschnürt, während wir so tun, als wäre es uns egal. Während mir mein Leben um die Ohren fliegt, dieses Leben, das ich zwischen den Telefonaten führe. Das ist die Realität, in der ich nicht jemanden brauche, der mit meiner Fantasie spielt. o4:o6. Das ist die Realität, in der ich jemanden brauche, der mich in den Arm nimmt, wenn ich nicht schlafen kann. Ich unterdrücke ein Gähnen:
– Es ist spät. Wir sollten schlafen.
Er zögert. Flüstert. Meinen Namen, und
– … bitte, leg nicht auf, ja?
o5:36. Wir werden gleichzeitig wieder wach, flüstern Gute Nacht. Träum schön.
– Hör zu … Du darfst das niemandem erzählen, ja? Ich hab Dir das noch nie gesagt. Und auch sonst niemandem. Weißt du, … eigentlich… geht es mir nicht nur um Sex. Das reicht mir nicht mehr. Ich brauche mehr.
Ich schweige:
Ich weiß.
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Wenn man einfach losläuft, sind es 5 Tage und 2 Stunden.
Da hängt ein weißer Zettel an meiner Autotüre. Ein Strafzettel, denke ich, ärgere mich, reiße ihn weg. Die Wohnungsübergabe ist erledigt, wir wollen jetzt losfahren. Wir ziehen heute zurück nach Wien. Ich sehe den Zettel genauer an. Es ist kein Strafzettel, es steht etwas in Handschrift darauf. Würde dich gerne wiedersehen. LG. Ein Name, den ich nicht kenne. Darunter eine E-Mail-Adressse. Von Wien bis hier sind es genau 595 Kilometer.
In den nächsten Tagen, Wochen, Monaten schicken wir uns hunderte kleiner Nachrichten: Ein Lied zwischen zwei Momenten, drei Sätze als Lebenszeichen aus einem Alltag. Vielleicht sind wir nur einfallslos. Vielleicht brauchen wir aber auch nicht viele Worte. Vielleicht genügen Schrägstriche, Unterstriche, eckige Klammern, Sterne. Andeutungen in leisen Tönen, in winzigen Momenten zwischen Terminen, kleine Lichtblicke mit einem Gedanken und zwei Worten. Sehe ich seinen Namen in meinem Posteingang, auf meinem Telefon, huscht ein Lächeln über mein Gesicht. Er und ich: leben von Zwischentönen, erahnen Stimmungen und Launen aus veränderten Stimmlagen, zeichnen Bilder von den Tagen, die wir hinter uns bringen, bevor wir miteinander reden. Mit Hilfe unserer Telefone finden wir uns, irgendwo in der Mitte zwischen unseren Städten, in einem Raum, der ganz allein uns gehört.
Und enden doch als bloße Idee im Kopf des anderen. Als leise Idee von einem Wir auf Kilometer 297,5.
Plötzlich schon ist ein halbes Jahr vorbei. Und die Ungewissheit nagt, unaufhörlich und in jedem Augenblick. Ich weiß alles über ihn. Jedenfalls sagt er das. Ich weiß nicht, was ich ihm glauben kann: Er geht zur Uni, er sieht gut aus, da bin ich mir sicher, seit ich ein kleines Foto von ihm sah. Er ist Musiker, er hat Musikerhände, er hat wahrscheinlich an jedem Finger jeder dieser Hände ein anderes Mädchen, sie liegen ihm zu Füßen, hängen an seinen Lippen, saugen seine Worte auf, hören seine Musik und träumen sich in seine Arme. Da bin ich mir sehr sicher.Vielleicht. Ich weiß es nicht. Doch es nagt, es lässt mich nicht los, es macht mich manchmal fast wahnsinnig. Ich bin eifersüchtig auf etwas, das ich nicht einmal habe. Ich habe kein Recht darauf. Doch es frisst mich langsam auf.
Er ist 25. Sechs Jahre jünger als ich. Ich bin längst raus aus dem Alter für solche Geschichten, und ich habe mein Kind. Was soll er mit einem Kind.
Es ist Herbst, er ist im Stress, hat Klausuren, Examen und kein Geld, er meldet sich kaum noch, vermutlich hat er eine andere, ich muss zweifeln, an der Idee von ihm und mir, muss ihn mir aus dem Kopf schlagen. Bevor ich mich endgültig an ihn verliere. Verrücktsein und Verliebtsein unterscheiden sich nur in vier Buchstaben. Das alles kann nicht funktionieren. Wir könnten uns sehen, doch wenn wir uns sehen werden, dann nur, um es zu beenden, um einander zu versichern, dass es nie hätte funktionieren können. Er ist zu jung, ich bin zu alt, unsere Leben sind unvereinbar. Er soll die Welt sehen, andere Frauen haben, sich austoben, alles andere wäre eine Illusion. Ich muss mich schützen, muss meinen Alltag zwischen Wohnung, Arbeit und Kindergarten in Bewegung halten. Ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Und dabei bringt mich allein die Vorstellung, ihn zu verlieren, fast um.
Ihn zu verlieren. Den ich doch nie hatte.
Er inspiriert mich. Meine Texte waren lange nicht mehr so gut. Weil er nicht hier ist. Dieser Schmerz des Vermissens, des Alleinseins, obwohl da doch jemand existiert, irgendwo, aber zu weit weg, und diese die Sehnsucht, mich ihm hinzugeben. Macht das, was ich schreibe, größer, trauriger, tiefer, und näher. Näher an allen Menschen, die ich nicht kenne.
Und dabei tut er mir so gut. Er sorgt sich, schickt kleine Pakete, fragt nach der Kleinen. Er ist da.
Er ist so sehr da. So sehr, dass jeder Tag, an dem ich ihn immer noch nicht sehen kann, unerträglich ist. Seit ich ihn kenne, weiß ich, wie man Sehsucht schreibt. Wenn ich aufstehe, denke ich an ihn, stelle mir vor, wie ich morgens für ihn Kaffee kochen würde, wenn er nur hier wäre, ich laufe durch die Stadt, sein Gesicht vor meinen Augen. Ich habe mir selten zuvor jemals so sehr gewünscht, dass jemand um die nächste Ecke biegt und auf mich zukommt. Ich laufe um Häuserecken, durch Straßen, in denen ich nie zuvor gewesen bin, in der Hoffnung, er könnte dort vielleicht sein, er könnte nur einmal an einem Ort sein, an dem ich auch bin, ich könnte ihn kurz sehen und ihn dann endlich vergessen. Und wenn ich nachts schlafen gehe, nehme ich ihn mit ins Bett, bin ich eingeschlafen, träume ich von ihm. Ich erzähle es ihm nicht. Er ist überall und nirgends. Er ist so sehr da. Er ist nicht da. Und am Ende schlafe ich doch jede Nacht allein.
Es zerreißt mich.
Wir lesen uns die Texte unserer Lieblingslieder vor, Zeilen aus unseren liebsten Büchern. García Márquez. Y se sintió olvidado, no con el olvido remediable del corazón, sino con otro más cruel e irrevocable que él conocía muy bien, porque era el olvido de la muerte. – Und er fühlte sich vergessen, nicht mit der heilbaren Vergesslichkeit des Herzens, sondern mit einer noch grausameren und unwiderruflicheren, die er sehr gut kannte, weil sie der Vergessenheit des Todes war. Mit jedem Wort wird es schmerzlicher, ihn zu vermissen. Er singt ein Schlaflied, erst für die Kleine, dann für mich, die Wohnung ist kalt und leer wie nie zuvor. Es ist Herbst. Und wir sind hundert Jahre einsam.
Manchmal flüstern wir nicht einmal mehr und schweigen nur noch. Stundenlang. Das sind die Momente, in denen er in mein Leben schleicht, nur weil er atmet, Momente, in denen er zentimeterweise tiefer unter meine Haut kriecht. Wie alle Menschen, die man gerade am allernächsten braucht, die einem gedanklich, gefühlt, so nah sind, wohnt er so weit weg. Er ist mir unter die Haut gekrochen. Ohne sie je berührt zu haben.
Das erste Mal, als ich ihn nicht nur auf einem Foto sehe, ist er schwarzweiß. Er hat ein Grübchen in der linken Wange, später weiß ich, dass es die rechte ist, die Webcam war falsch eingestellt und das Bild spiegelverkehrt. In seinem Gesicht liegt ein Lächeln, das bei den Männern, die ich sonst kennenlerne, schon bitter geworden ist. Diese drei Millimeter Mundwinkel. Ich sehe ihn an und will augenblicklich sterben. Damit dieser Moment nie vorbeigeht.
Wir reden und reden, es klingelt an meiner Türe, ich muss kurz weg vom Laptop und dem Menschen auf meinem Monitor, ihn kurz nicht sehen wie ein Abschied für immer, später sitzen wir an Schreibtischen, auf Sofas. Und wenn ich schlafen gehe, nehme ich ihn mit. Vorsichtig streiche ich mit dem Handrücken über seine Wange. Seinen Mund. Er schließt die Augen. Seufzt ich küss dich.
1440×900 Pixel. Ich könnte weinen. Weil es so wehtut. Weil es so schmerzt, dass er nicht da ist, dass das nur ein verdammtes Bild auf dem verdammten Monitor eines verdammten Laptops ist.
Ich muss ihn mir endgültig aus dem Kopf schlagen, alles Spuren von ihm aus mir herausreißen, muss endlich damit abschließen, ich brauche Gewissheit, eine Bestätigung, dass es nicht geht. Mit uns. Ich will ihm kurz begegnen, ihn sehen, nur ein einziges Mal, in der S-Bahn, mit der man vom Hauptbahnhof aus zu ihm kommt, wir sollten uns kurz sehen zwischen all den Menschen, nur zwei Fahrgäste wie alle anderen auch. Ich will einige Meter von ihm entfernt stehen, vorsichtig die Hand heben, als wollte ich winken, sie zurück in meine Hosentasche stecken, die Gewissheit mitnehmen, dass es nicht geht. Nur einmal will ich unter seinem Blick verglühen.
Dann soll die Bahn anhalten, ich will aussteigen, den Bahnsteig entlangrennen, die Treppen hinunter, raus, raus, raus, die nächste Straße entlang, so lange laufen, bis ich nicht mehr kann. Ich will mich auf ein Stück Rasen legen, an irgendeiner Kreuzung, will atemlos sein vom Laufen und fühlen, dass mein Herz fast zerspringt. Und dann: soll es vorbei sein.
Das alles denke ich, während wir zusammen im Bett liegen. Wir liegen nur noch da, sehen uns an. Und können es nicht fassen. Es ist das erste Mal, dass ich mich in einem Menschen so rettungslos verloren habe. Nach genau 8 Monaten.
Zwei Tage später klopft es an der Tür.
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Letzte Nacht hat es geschneit.
Wir fahren mit seinem Auto. Er sagt mir nicht, wohin, ich soll nur die Augen schließen und ihm vertrauen. Die Ampeln, an denen wir warten müssen, werden nach und nach weniger, um uns herum wird es leiser, der Stadtlärm nimmt ab, irgendwann fährt er schneller. Wir sind raus aus der Stadt. Ich habe immer noch die Augen zu. Irgendwann blinkt er wieder, biegt rechts ab, bremst ab, hält an. Jetzt darfst du gucken. Ich mache die Augen auf, blinzle ein paarmal, sehe nach vorn durch die Windschutzscheibe.
Wir sind in einem Wald. Er steigt aus und öffnet mir die Tür, ich schnalle mich ab und steige aus, er öffnet den Kofferraum und drückt mir ein Paar Schlittschuhe in die Hand. Komm mit, ich zeig dir was.
Wir gehen einen schmalen Weg entlang. Die Bäume stehen dicht an dicht, trotzdem ist es ganz hell, die Bäume und der Waldboden glitzern weiß. Manchmal bricht abseits des Weges ein Ast unter der Schneelast herunter, wir hören das Splittern des Holzes, sehen den Schnee, wie er zu Boden fällt. Unter unseren Füßen knirscht es ganz leise, über uns leuchtet ein hellgrauer Himmel, das Grau durchbrochen von
– Tannen.
– Fichten.
– Tannen!
– Nein, nein, das sind Fichten, das seh ich doch auf hundert Meter!
– Erzähl mir nichts, du mit deiner Fensterglasbrille! Tannen!
– Fichten! Mein Opa ist Jäger, ich weiß das!
– Pah! Besserwisser!
Ich grinse ihn an und strecke ihm die Zunge heraus, er bleibt abrupt stehen. Deutet nach vorn. Der Wald teilt sich einige Meter weiter, er rennt los, ich ihm nach. Plötzlich bleibt er stehen.
Er lächelt.
– Der See wurde gestern freigegeben. Komm, zieh Deine Schuhe aus!
Ich bin völlig überwältigt. Und es fängt wieder an zu schneien. Ich setze mich auf einen Baumstamm am Rand des Sees, ziehe meine Schuhe aus und strecke meine Beine aus. Er nimmt mir die Schlittschuhe ab.
– So, und jetzt anziehen… soll ich sie dir binden?
Er kniet vor mich und kämpft mit den Schnürsenkeln, ich lehne mich zurück, lege den Kopf in den Nacken. Eine Schneeflocke landet auf meinen Lippen.
Der See gehört ganz uns allein. Wir ziehen Kreise auf dem Eis, die Kufen der Schlittschuhe hinterlassen dünne Spuren. Am Ufer liegen kleine Nadelbaumnadeln und Nadelbaumzapfen, um uns herum nichts als Stille. Wir fahren am Ufer entlang, umkreisen uns, fahren rückwärts, auf uns zu und wieder weg, drehen Pirouetten,
oder auch nicht: er bleibt mit seinem Schuh auf einem Tannenzapfen hängen und fällt hin, rudert mit den Armen in der Luft, versucht, sich abzufangen, landet auf dem Hintern, bleibt auf dem Eis sitzen und jammert theatralisch, ihm tut alles weh, der kleine Zeh ist mindestens gebrochen, die anderen müssen bestimmt amputiert werden, er ächzt und legt sich ganz hin, und wenn wir gerade dabei sind, das Bein muss sicher gleich mit, und der Rücken ist hinüber, für immer!, eine Gehirnerschütterung hat er wohl auch noch, und furchtbare Atemnot, und den Bauchnabel hat er sich verstaucht. Ich fahre die paar Meter bis zu ihm, lege den Kopf in Denkerpose schräg, kann mir über seinem wehleidigen Ton ein Grinsen nicht verkneifen, und als er noch eine kleine Träne verdrückt, kann ich nicht mehr stehen, muss mich setzen und liege schließlich lachend neben ihm auf dem Eis. Er dreht sich zu mir und lacht
– ich bin der schlechteste Schauspieler, den du je gesehen hast, stimmts?
– Stimmt.
Wir lachen, bis uns Tränen über die Wangen laufen, bis uns die gefrorenen Gesichtsmuskeln wehtun und die kalte Luft in unseren Lungen schmerzt.
Dann sehen wir an den dunklen Bäumen vorbei weit hinauf in den Himmel. Sehen die Bäume am Rand der Lichtung. Ihre Blätter, die leise im Wind rascheln. Lichtes Grau.
Sein Handschuh an meinem.
Er nimmt meine Hand und hält sie fest. Wir sehen uns in die Augen. Stehen langsam auf. Wir halten uns aneinander fest, bis wir sicher stehen. Die Kufen unserer Schlittschuhe berühren sich. Er streicht mir eine Strähne aus dem Gesicht, zieht mich an sich, seine Hände auf meinen Hüften. Dicke Schneeflocken fallen in Zeitlupe auf uns herab. Ich schließe die Augen, lege meine Lippen an seinen Hals. Atme seinen Duft ein.
Er zieht mich näher an sich.
Zwei Zentimeter Schnee auf unserem Haar.
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Jedes Wort. Ganz toll. Ich habe gerade 4:28 und habe mir gerne die Zeit genommen!
Danke. Mich hat lange keine Geschichte mehr so berührt.
Ich…wow.
Das wollte ich dir nur sagen.
Ich liebe deine Texte
…und wieder zu schön um nicht wahr zu sein. Vielen Dank mal wieder für die gelungene Ablenkung.
immer wieder gerne ein Leser