Jeden Tag begegnen wir, wenn wir in einer Großstadt arbeiten und in der Mittagspause durch die Fußgängerzone bummeln, tausend Menschen. In einer kleineren Stadt hundert. Bleiben wir im Büro sitzen, vielleicht fünfzig.
Mindestens aber bleibt es bei einem – dem, den wir spüren, dessen Magenknuren wir fühlen, der uns bewusst ist, selbst wenn er uns nicht in einem Spiegel oder einer Fensterscheibe begegnet. Was dieser Mensch tut, bekommen wir immer mit, wenn nicht gerade unser Gehirn wegen der Nachwirkungen überhöhten Alkoholkonsums (guten Morgen an alle, die gerade aus ihrem Post-Silvester-Koma erwachen!) sämtliche Erinnerungen gelöscht hat.
Wir wissen alles. Aber muss das “alles” dann auch gleich die ganze Welt wissen?
Einem Phänomen bin ich in den letzten Tagen schon des Öfteren begegnet, ich bezeichne es als Mutter-Tochter-Phänomen, obwohl es genauso, wenn auch in anderer Ausprägung, in anderen Konstellationen auftritt.
Situation, heute Nachmittag in einem Café:
Tochter (25) kommt mit Mutter (50) in schickes Café in Innenstadt. Wohlgemerkt: Nicht umgekehrt, denn Tochter ist Stadtführer-Ersatz, Mutter hat keine Ahnung!
Tochter, noch hüfteschwingend durch Café promenierend und überhaupt sehr hip-modern:”Also, ich bin hier ganz oft, schicker Laden, außerdem gibts Chai Latte unfat with hazelnut cream, sour cream and onion, und sexy Kellner haben die hier, quasselquatschblablubb…”
Mutter sagt: “…”
Mutter denkt: “Sexy???”
Tochter: “Setzen wir uns hier hin? Wir setzen uns hier hin! Guck mal, da unten kannst du deine Tasche hinstellen soll ich dir die Jacke abnehmen hast du Hunger willst du was trinken geb mir maldenSchirmWarteSetzDichLieberAufDenAnderenStuhlVonDaAussiehtmanbessersoschöndasswirendlichhiersind…”
Mutter : “Kind, lass doch, ich kann meine Jacke doch selber…”
Tochter: “Was magst du trinken?”
In ähnlichem Stil setzt sich das Gespräch über die nächsten 30 Minuten fort.
Gesprächsanteilsverteilung: Tochter 80%. Mutter 10%. Die übrigen 10% übernimmt die Kellnerin (leider gar icht sexy). Das Gespräch würde jeden Marketing-Experten in Verzückung versetzen – Selbstvermarktung at its best.
“Klar geht’s mir gut, Mami, ich verdien doch jetzt auch mehr, ach und meine tolle Wohnung, die musst du nachher noch unbedingt angucken, und erst meine neuen Möbel…! Aber ich bin ja eigentlich eh nie daheim, nächste Woche bin ich Mannheim, dann in Würzburg, dann auf dieser Messe in Wolfsburg, hach. Aber hier, da ist ja auch so gar nichts los, völlig öde, ganz schrecklich. Da würde ich abends unter der Woche so gern weggehen, aber hier ist ja nichts, und am Wochenende auch nur Schrott. Wobei, die Leute, die so mit mir an der Uni sind, die hocken ja auch nur abends daheim…” Und so weiter und so fort. Bliblablubb.
Während all dieser Zeit sitzt die Mutter geduldig zuhörend nebendran, nickt an den richtigen Stellen, lässt sich ein Ciabatta mit Spinat und Käse aufschwatzen, obwohl sie gar keinen Spinat mag, hört sich an, wie toll das Leben ihrer Tochter ist und blickt ab und zu gedankenverloren auf die Getränkekarte, als könnte sie daran ablesen, wie viel Zeit schon vergangen ist.
Egal wie weit man glaubt, sich von seinen Eltern “emanzipiert” zu haben (ein schreckliches Wort, so an sich – erst emanzipiert man sich von den Eltern, später von dem Kerl, den man sich angelacht hat) – es holt einen ein. Das Gefühl aus dem Kindergarten, wenn man Mami unbedingt noch zeigen muss, wie toll der Sandkuchen geworden ist, den man gebacken hat. “Ich bin so stolz und so toll und ich will, dass du das weißt und mir auch nochmal sagst, damit ich ganz sicher weiß, wie großartig ich bin.”
Das verlässt einen nicht. Bei einer Fünfjährigen ist das ja noch ganz süß. Doch bei einer 25-Jährigen hat es schnell etwas von billiger Effekt- und Beifallsheischerei, fast wie um die Mutter kleiner zu machen, als sie eigentlich ist. Mit 25 wird man eben immer noch nach elterlicher Aufmerksamkeit, Bestätigung und Zuneigung hungern, schließlich gibt’s die kostenlos und manchmal schon relativ einfach – manche Eltern finden grundsätzlich alles toll, was der Nachwuchs treibt. Man wird auch mit 50 noch Kind sein, da kann man machen, was man will.
Und auch mit 50 will man keine schlechten Mathearbeiten, verzogenen Enkel oder verbrannten Käsekuchen mit zu Mama und Papa bringen.