Montag Morgen, der Weg zur U-Bahn. Niemand ist auf den Straßen, es ist eigentümlich leise. Alle Bahnen: menschenleer, bis auf ein paar Touristen mit Rollkoffern, wahrscheinlich haben sie ihren Flieger verpasst, warum sonst sollten sie noch hier sein. Es ist doch niemand mehr hier, alle haben die Stadt verlassen, sind unterwegs zu ihren Familien, wie eine kleine Flucht aus der Stadt, aus dem Alltag, aus dem Leben, das man hier so hat. Es regnet. Auf den Straßen liegt Schneematsch, darunter Kies, weiter darunter Eis, zwischendrin tiefe, schwarze Pfützen. Entweder man tritt in die Pfützen, rutscht auf dem Eis aus oder die Schuhe füllen sich allmählich mit kleinen Kieselsteinchen.

Durch die Straßen gehen, beschwingter als an den vorigen Montagen, wie fast ein wenig glücklich, als ob — ja, was? Als ob etwas anders wäre. Es ist nicht so, dass sich die Art verändert hätte, wie die Erde um die Sonne kreist, oder der Lauf der Dinge, der viel häufiger ein Stillstand ist. Es ist auch nicht, dass sich plötzlich die Dinge geordnet oder entschieden hätten, dass plötzlich alles klar wäre. Es ist eher das Zwischenergebnis einer gewissen Distanz zu den Dingen. Wie wenn man auf einmal merkt, dass man vor ungefähr drei Monaten aufgehört hat, Kaffee zu trinken, und nicht einmal mehr weiß, wann man die letzte Tasse Kaffee trank und mit wem. Wie wenn man merkt, dass man seit zweieinhalb Monaten viel weniger raucht, ohne das je beschlossen zu haben, dass man überhaupt mit manchen Dingen einfach aufgehört hat, ohne es zu merken, ganz aus Versehen. Im kleinen Laden nebenan räumt eine Dame das Kühlregal ein, das letzte Glas Fruchtjoghurt passt nicht ins Fach, sie wiegt das Glas in den Händen, prüft, schaut ins Regal, sie kann nichts mehr umräumen, alles steht ordentlich an seinem Platz. Kurz sieht sie sich um, wendet sich wieder dem Regal zu, geht zum Nachbarregal und stellt den Joghurt schnell neben Holländischer Gouda, alt. Für einen Joghurt ist das kein übler Platz.

Noch immer ist nichts in diesem Leben aufgeräumter oder klarer. Die Dinge sind immer noch mehr kalte Pizza als Drei-Sterne-Menü, mehr Mp3 als Vinyl, mehr Bahn als Taxi und häufig auch eine Bahn, die einfach nicht kommt. Was aber passiert ist, ist das Wissen, dass die Dinge sich von alleine ordnen können. Einiges wird wohl noch aufhören, manches davon mit Vorsatz; wieder andere Dinge werden nebenbei und ganz leise verschwinden. Das sind die, bei denen es kein Vermissen gibt, nur eines späteren Tages ein kurzes Zurückdenken daran, wie es war, als sie noch da waren. Die verbliebenen, das werden die sein, die eine Zukunft haben, nicht immer in bunten Farben glitzernd. Nur jetzt, jetzt ist immer noch Montag, der Regen hat aufgehört, die Hände in den Manteltaschen spielen mit zwei Kastanien, die Straßen sind immer noch leergefegt. Man könnte jetzt die Stadt erobern. Aber erstmal lässt man sie wachwerden.

One comment

  1. Scharfen analytischen Geistern ist es gelungen, sämtliche im vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum beobachtbaren Phänomene auf zwei fundamentale Prinzipien zurückzuführen: erstens die Entropie und zweitens Murphys Gesetz. Wie Du im Physikunterricht bestimmt gehört und gleich wieder vergessen hast, verstehst man unter Entropie den betrüblichen Umstand, dass das ganze Universum unaufhaltsam dem Kältetod verfällt. Die Sterne brennen sich allmählich selber leer, die Energiereservoirs gleichen sich mehr und mehr aus, am Ende steht das Chaos still. Ein Nebeneffekt davon ist, dass Naturzustände, überlässt man sie sich selbst, eher dazu neigen, immer größerem Chaos entgegenzustreben, als sich wie von Zauberhand selber zu ordnen; dies kannst Du anhand jedes Kinderzimmers auf diesem Planeten studieren.

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