Heavy Metal, Halbstarke, Hosentaschen: Musik im öffentlichen Personennahverkehr in einer ganz normalen Nacht an einem ganz normalen Freitag (fast jedenfalls)

Es ist Freitag Abend, ich stehe in der U-Bahn.

Ich stehe immer in der U-Bahn, das hält mir die Möglichkeit offen, schnell meinen Standort zu wechseln, ich empfinde schlimme Gerüche als sehr unangenehm und kann es vor allem, besonders morgens, nicht ertragen, wenn sich jemand mehr oder weniger auf mich draufsetzt. Und wenn ich stehe, kann ich jederzeit in einen anderen Waggon umsteigen flüchten, wenn ein U-Bahn-Musiker nervt. (Man sollte nur darauf achten, nicht zur selben Zeit in den selben Waggon umzusteigen wie die Musiker, das verlängert sonst die Leidenszeit. Ich habe das ausprobiert.)

Ja, die U-Bahn-Musiker. Was ist nicht schon alles über sie geschrieben worden. Grundsätzlich gilt:

  1. Traue nichts, was mindestens eine Taste hat (Akkordeon! Tragbarer CD-Player!).
  2. Sei misstrauisch gegenüber allen Blasinstrumenten (Trompete! Saxophon! Blockflöte!).
  3. Flüchte vor Streichinstrumenten – besonders Geigen klingen bei minimal falscher Handhabung wie eine räudige Katze, die auf Metallplatten Pogo tanzt.
  4. Und sobald jemand den Mund aufmacht: LAUF!

Jetzt also ist es Freitag Abend, ich stehe in der U-Bahn direkt an der Tür, und weit im Norden der Stadt steigt ein Straßenmusiker zu. Sofort (und damit meine ich sowas von “sofort”, ich habe praktisch schon reagiert, bevor ich ihn überhaupt sah,) mache ich die Musik auf meinem iPhone lauter und sehe an die Decke (neben der akustischen Störung empfinde ich meist nämlich noch ein unerträglich großes Fremdschämen). Dann sehe ich mir den Kerl an: Typ Metal, die langen Haare zusammengebunden, er trägt ein Shirt mit irgendeinem seltsamen Logo, das nur von Ed Hardy oder einer Heavy Metal-Band stammen kann (die genaue Unterscheidung ist mir immer noch unklar). In seiner Hosentasche eine Flasche Barbecuesoße (ja, richtig, Barbecuesoße). Und er hat eine Westerngitarre. Uh. Naja.

Ich höre irgendwas, was man so hört, an Abenden wie diesen. Da fängt er an zu spielen, ich sehe nur, was er macht, ich höre nichts, nach nichtmal einer halben Minute drücke ich Pause und nehme die Kopfhörer ab .

Der Typ ist gut – klare, gute Stimme, Berliner Schnauze und Pitbullhaftigkeit (“einen spiel ich noch, so leicht werdet ihr mich jetzt nich los!”), und Gitarre spielen kann er auch noch. Mitten in seinem ersten Lied steigen einige aus, gehen extra noch zu ihm, er spielt ungerührt weiter, sie stecken Geld in eine seiner zahllosen Hosentaschen.

Die Kunst bei Musik ist nicht, sie perfekt zu spielen, sondern das Publikum zu erreichen. Das Publikum, und mit dem Publikum meine ich mich, ist kurz davor, zu heulen. Einfach so. Nein, natürlich nicht einfach so, sondern weil es so schön ist und traurig und weil es wohl das beste für diesen Moment und diese Zeit ist. Ich sage es ungern, da das mit Näherrücken des 24.12. immer gefährlicher wird und eh viel zu häufig gesagt wird, aber: ich habe Gänsehaut. Ich kenne das Lied nicht, schreibe ein paar Zeilen mit, um zuhause nachzusehen, was es ist (die Akustikversion eines Hits einer amerikanischen Punkband).

An der nächsten Haltestelle steigt eine Gruppe grölender Jungs an meiner Tür zu, 8 oder 9 vielleicht, alle in dem Alter, in dem man schon Frauen imponieren will, aber noch nicht so recht weiß, womit eigentlich, sie sehen den Musiker, der gegenüber der Tür unbeeindruckt weitersingt, sie sehen mich, nicken mir zu, “sag mal, gefällt dir das?”, mit diesem “wir sind zu cool für diesen Scheiß”-Unterton. Ich will mir diese Musik und diesen Moment nicht kaputtmachen lassen, ich würde mich jetzt und auf der Stelle sogar prügeln, um ihn zu verteidigen, und sage “es gefällt mir. Sehr. Und der macht das echt verdammt gut”, dabei komme ich mir vor wie eine Lehrerin, die eine Gruppe Halbstarker im Museum dazu bringen will, einen Rembrandt mal zwischen zwei WhatsApp-Nachrichten wenigstens zu registrieren. Sonst gibt es ja nicht viel Schönes, in einer Freitag Nacht in der U8. Sie nicken ehrfürchtig und sind tatsächlich still, offenbar habe ich wirklich Talent darin, einen Haufen Spätpubertärer Respekt einflößend in ihre Schranken zu weisen. Ein paar Stationen später spielt er immer noch, kurz vor Halt stecken sie ihm noch eine Handvoll Münzen zu, scharen sich in einem Halbkreis um mich, murmeln kollektiv etwas von “ist ja schon süß” und “niedlich”, gut, das mit dem Respekt hat vielleicht doch nicht ganz geklappt, die Türen gehen auf, ich höre noch “und so hübsch!”, ich muss grinsen, deute in Richtung Bahnsteig, rufe
“Raus mit euch!” und in Richtung des Musikers:

Schön war das.
Dann steige ich aus.

One comment

  1. Und so wendet sich das Blatt. Na hoffentlich hast du nicht schon in der U-Bahn angefangen zu heulen. Wenn es doch nur mehr weibliche Straßenmusiker geben würde. Dann hätte ich einen Grund, öfter auf öffentliche Verkehrsmittel wie die U-Bahn zurückzugreifen.

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