Wo die Sonne verstaubt

Ich weiß, der Wald ist tief und niemand ist gern einsam und allein,
es ist nur dunkel, wo die Sonne nicht hinscheint.
Und der Bär will nur den Honig, nicht die Bienen,
und die Wolken zieh’n vorbei.

(Nils Koppruch)

Auf dem Boden unter einem Baum liegen auffallend viele Blätter in Goldbraun, abgeworfen früher als alle anderen Bäume. Wäre ich ein Baum in dieser Stadt, ich täte es ihm gleich.

Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich in einem Studentenwohnheim. Auf dem Flur stehen Wäscheständer und es riecht nach trocknender Wäsche, ich ziehe den Rollkoffer hinter mir her übers Linoleum, da erinnere ich mich, dass ich doch einmal in einem Studentenwohnheim war. Das war in München, vor mindestens vier Jahren, als ich noch ein Auto hatte und keinen Rollkoffer, vielleicht ist es sogar länger her, ich weiß es nicht. Ich weiß nur noch, dass es ein Schwesternwohnheim war, in dem T. wohnte. T., der einen geringelten Schal trug. Es war Winter und in der Nacht zuvor war Schnee gefallen, wir gingen über  den jüdischen Friedhof, die Sonne leuchtete von einem blauen Himmel und später machte ich ein Foto von ihm, wie er lachte, auf einer Brücke über der gefrorenen Isar.

Ich stelle meinen Koffer ab im Zimmer am Ende des Flurs, an der Tür steht auf einem Aufkleber in großen Lettern FRAUEN ABER AUCH, das war schon da, sagt er. Ich ziehe mich um und versuche, mich zurechtzufinden, ich will nichts falsch machen und frage, was man beachten muss in so einem Studentenwohnheim, in Gedanken ziehe ich Vergleiche zu einer Jugendherberge und finde keinen Unterschied. Die Nächte davor habe ich in einem Vierbettzimmer verbracht, und das Highlight jener Tage war die malaysische Mitbewohnerin, die mit einem Nagelknipser ihre Nägel kürzer knipste und Fingernagelbruchstücke durchs Zimmer schoss.

Wir fahren mit der U-Bahn, ich darf auf dem Studententicket mitfahren, kurz nach dem Bahnhof steigen wir aus. Eine Fußgängerzone gibt es hier, ich habe lange keine Fußgängerzone gesehen, die explizit eine Fußgängerzone ist, sehr viel Systemgastronomie, Bars, Kneipen, Restaurants, die bei 7° Celsius erstaunlich viele Stühle und Tische im Freien aufgebaut haben, in exakt gerade gezogenen Reihen, die der Szenerie im Neonlicht der Systemgastronomieschriftzüge eine große Ungemütlichkeit verleihen. Die wenigen Menschen, die unterwegs sind, sind fast ausnahmslos jünger als ich, ich denke an das Business-Outfit, das ich erst vor einer halben Stunde gegen Jeans getauscht habe, und komme mir nicht einmal alt, aber doch recht anders vor.

Ich habe den ganzen Tag einen kleinen Apfel mit mir herumgetragen, der liegt jetzt im Koffer, ansonsten habe ich nichts gegessen. Es gibt belgisches Bier und Fritten auf Butterbrotpapier mit rotem Karodruck.

Wir gehen in den Supermarkt und kaufen ein, fahren nach Hause ins Wohnheim, home is where your hotel is, sitzen in der Küche, es gibt keine Eiswürfel, wir trinken aus Tassen. Im Hintergrund läuft der Fernseher, Atze Schröder macht Sachen in Berlin, es soll wohl lustig sein, ich verstehe den Witz nicht und seine Hose mit Leopardenprint und Berlin ist weit weg. Wir schalten den Fernseher aus, hören Musik, außerdem führe ich via eines elektronischen Nachrichtendienstes eine Unterhaltung, die mich zu dem Gedanken verleitet, dass man schlafende Sehnsüchte nicht wecken soll. Tut man es doch, sollte man es vorsichtig tun.

Ich empfinde das Studentenwohnheim als unattraktiv und hässlich, stehe ihm aber ansonsten recht neutral gegenüber. Gut daran, nur für eine Nacht zu bleiben, ist, dass man sich nichts verpflichtet fühlen muss. Die Mitbewohner interessieren mich nicht, nur dass sie später mit scharfen Gewürzen kochen, als wir in der Küche sitzen, und am Morgen danach all meine Kleidung nach scharfem Essen riecht.

Dann ist es sehr spät und wir gehen schlafen. Ich wache vor sechs Uhr von einem arhythmischen Klopfen irgendwo im Haus auf und draußen regnet es. Der Gedanke an Menschen, die frühmorgendlichen Geschlechtsverkehr haben, macht es nicht besser, ich schlafe nur noch einmal kurz ein und träume schlecht. Später werde ich mich noch in der Fußgängerzone zwischen den Systemgastronomiebetrieben verlaufen.

Man kann die Städte nach dem Bodenbelag vor ihren Bahnhöfen unterscheiden. Ich schlinge den Schal um meinen Hals, ziehe den Reißverschluss der Jacke zu, halte meine Tasche fest und gehe los zum Zug, der wegfährt.

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