Und es war Sommer

Es war im Sommer vor drei Jahren, als Gustav eines Abends vorschlug, ein Auto zu mieten.

Wir saßen in seiner WG am Küchentisch, der Küchentisch war eigentlich nur ein niedriger Couchtisch, wir saßen auf den beiden alten Sofas, die Gustav und zwei seiner schwedischen Freunde eines Nachts auf dem Heimweg von einer Party an einer Straßenecke gefunden und betrunken in die Wohnung getragen hatten. Nach ihren Erzählungen waren sie damit vom äußersten Ende der Donaustadt vorbei am Praterstern bis zu unserer Wohnung an der linken Wienzeile gelaufen. Wir alle waren in jener Nacht nicht dabei.

Wir, das waren: Martin, der Physiker mit dem unkontrollierbaren Hang zur Zubereitung von Sprengstoff in der WG-Küche; Jochen, der es geschafft hatte, Taxifahrer zu werden, ohne vorher Musiker oder Geisteswissenschaftler gewesen zu sein; und ich, ich glaube, das war der Sommer, in dem ich mir die Haare mit einer Bastelschere abgeschnitten hatte und die meiste Zeit mit irgendwem knutschend an der Donau lag, wobei “Irgendwem” sich bald zum Problem auswuchs. In jenem Sommer wohnten wir mit Gustav in einer WG, Gustav, der erst Arzt werden wollte und nun Straßenmusiker war, seit er entdeckt hatte, dass das seine Chancen bei Frauen in ungeahnte Dimensionen steigen ließ, und seinen Eltern in Schweden allerdings weiter regelmäßig mit einer Photoshop-Raubkopie gefälschte Scheine von der Uni schickte. Seine Geschichte von der Eroberung des Sofas hielten wir daher für ungefähr genauso wahr wie die Bescheinigung über seine letzte bestandene Prüfung. Wir vermuteten dagegen, die Sofas hatten einfach um die Ecke gestanden, doch da es niemanden gab, der das nachprüfen konnte oder gar wollte, ließen wir Gustav seine Geschichte und nickten jedes Mal, wenn er davon erzählte, ehrfürchtigen Blickes.

Die Sofas waren mittlerweile gezeichnet von Rotweinflecken, Brandlöchern und undefinierbaren weiße Spuren. Jochen, einer der drei, die das Sofa getragen hatten, behauptete, die weißen Spuren stammten von einem Frühstücksei. Da jedoch nicht überliefert war, dass in dieser Wohnung seit Beginn der Sofazeit oder davor irgendjemand Frühstück in Form von fester Nahrung zu sich genommen oder gar Ei gekocht hätte, versuchten wir seit Auftauchen des ersten weißen Flecks, herauszufinden, mit welcher Frau er auf diesem Sofa geschlafen hatte und wann.

Unser Versuch blieb lange erfolglos: Jochen verweigerte erst beharrlich die Auskunft, täuschte kurz darauf vorübergehende Amnesie und, als das nicht half, Verstummen vor und kochte auch noch seit unserem ersten Nachfragen hartnäckig täglich acht Frühstückseier, aß eines davon und machte aus den anderen Eiern alle zwei Tage eine große Schüssel vom schlechtesten Eiersalat, den diese Stadt jemals gesehen hatte. Eigentlich waren es auch eher zerbröselte Eier mit einem Kilo Mayonnaise, die er in einer blauen Tupperschüssel servierte (auch die Frage, warum Jochen eine blaue Tupperschüssel besaß, ist bis heute nicht geklärt). Er dekorierte das Mayonnaise-Inferno häufig noch mit etwas Grün, bei dem es sich entweder um Löwenzahnblätter, Basilikum vom Nachbarbalkon oder ein bisschen Gras, ebenfalls vom Nachbarbalkon, handelte.

Meistens blieb es zunächst bei Letzterem, jedenfalls bis zu dem Tag, an dem der Nachbar Sturm klingelte und uns hochroten Kopfes anschrie, wir sollten doch bitte die Finger von seinem Gras lassen. Im Originalton (auf Österreichisch und ohne “Bitte”) klang das ungefähr so: “DEIFL ANI IHR SAUDEBBADN PREIßN LOSSTS IHR EIER FINGER VON MEINA PFLONZN SONST RICHT I EICH DIA WADLN VIERI!”. Leider hatte Anna die Tür geöffnet, Anna war Schwedin und für ein paar Tage bei Gustav zu Besuch, Anna sprach kein Deutsch und schon gar nicht das Österreichisch des hochgradig wütenden Nachbarn. Leicht verschreckt entgegnete sie auf seinen Wutanfall zunächst nur ein freundliches “Pardon? How may I help you?”, was ihn kaum zu beruhigen vermochte.

“WENNS EICH JETZN NOU WEIDER SPUILT, FOATS ZAHNBÜRSCHDL MORGN INS LEERE. UN WENNS DEBBAD SEIDS REIß I EICH N SCHÄDL ANI UN SCHEIß EICH INS GNACK ANI! I DRISCH EICH ZAM!”

Gustav, Martin und ich hatten die recht einseitige Konversation bis dahin nur aus der Küche verfolgt und schlichen nun in Richtung Tür, um der armen Anna Beistand zu leisten. Als wir ankamen, lehnte eine zufrieden dreinblickende Anna mit dem Rücken an der geschlossenen Tür. Vom Nachbarn war nichts zu sehen und schon gar nichts mehr zu hören. Und Anna grinste: “I just told him I’m only the Putzfrau.”

Bis heute war nicht zu ermitteln, woher sie dieses Wort kannte, wo doch das zweite Wort, das sie kannte, ein schlimmes Schimpfwort war, von dem wir froh waren, dass sie es in der kurzen Begegnung nicht verwendet hatte. Damit war die Sache mit dem Nachbarn erledigt und Jochen stieg endgültig auf Basilikumgarnitur zum Eiersalat um. Die Ernsthaftigkeit, mit der er uns dieses Gericht alle paar Tage präsentierte, hatte in der Regel die Ernsthaftigkeit eines erstklassigen Strebers, aber wir liebten ihn trotzdem (auch, weil der Eiersalat trotz seiner Streber-Attitüde wirklich widerlich schmeckte).

Das Gericht hatte jedoch einen großen Vorteil, den wir schnell erkannten: Aufgrund seines hohen Eiweiß- (Eier!), Fett- (Eier!) und Mayonnaise- (Eier! Öl!) Gehalts stellte der Eiersalat eine ungeahnt gute Grundlage für jeden Kneipenabend dar. Jeder, dessen Magen sich angesichts dieser hochkalorischen Zumutung nicht sofort umdrehte, konnte auch problemlos größere Mengen Alkohols vernichten. Die vernichtbare Menge Alkohol stieg zudem exponentiell mit der verzehrten Menge Eiersalat an, weshalb wir bald jeden Freitag mit einem größeren Eiersalatgelage begannen, in dessen Lauf zwanzig Eier und ein Glas Mayonnaise vernichtet wurden. Der Einzige, der keinen Eiersalat mehr aß, war — Jochen. Ausgerechnet Jochen, der uns das alles eingebrockt hatte. Doch Jochen hatte nicht etwa eine Allergie gegen Eier entwickelt oder war, noch schlimmer, dem Veganismus anheim gefallen. Nein – der schlimmste aller Fälle war eingetreten: Jochen hatte sich verliebt.

Und sah nun den Verzehr enormer Mengen Eiersalat als seiner neuen Flamme unwürdig an.

Die neue Flamme hieß Louise. irgendwann war sie ihm wohl unter dubiosen Umständen auf der Herrentoilette eines Clubs zugelaufen, und an jenem Abend, um den es nun geht, saß sie auf seinem Schoß. Louise war nicht seine Freundin, sie wurde nicht müde, das im Viertelstunden-Takt zu betonen, nicht, ohne stets kurz darauf für zehn Minuten eine Hand in seinen Nacken zu legen und mit der anderen Hand eine seiner Hände zu halten, während sie knutschten, bis einer von beiden nach Luft schnappte. Wenn die beiden nicht knutschten, drehte Louise unablässig Zigaretten und rauchte sie in einer irrsinnigen Geschwindigkeit weg, ab und an steckte sie Jochen eine der Kippen in den Mundwinkel, der behielt sie dort so lange, bis der Filter ganz durchgeweicht sein musste, wenn er sie dann anzündete, sah man nach und nach das Filterstück wieder durch trocknen. Gustav saß im einzigen Sessel und schien über etwas nachzudenken, bis er plötzlich aufsprang, sich den Kopf an der Deckenlampe stieß, die daraufhin hin- und herschwang, die Faust in die Luft reckte und rief:

“Kommt, wir mieten ein Auto!”

(Sie lasen: Teil 1.)

By L.

I walk fast.

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