Immer wird es Nacht sein

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In meinem Traum warst Du, bis ich begriff, dass Du kein Traum warst, als Deine Stimme sich mit dem Weckerklingeln mischte, als blechern das Geräusch aus deinem Telefon in die weiche Stille des Schlafzimmers krachte. Du rütteltest mich an der Schulter. “Hey! Aufwachen!” Fünf Uhr zwanzig.

Kein Morgen wird gut, nur weil man “guten Morgen” sagt, ich weiß nicht einmal mehr, ob ich zu dir “guten Morgen” gesagt habe, ich weiß auch nicht mehr, wie ich ins Bad kam, meine erste klare Erinnerung ist der erste Wassertropfen aus der Dusche und dass ich dachte, immer, wenn ich dein Haarshampoo benutze, rieche ich wie du, womöglich verliebe ich mich bei Gelegenheit einfach mal in mich selbst, Dinge, die ich so denke, wenn ich dusche und nicht über die Wassertemperatur sinniere.

Ich kniff die Augen zusammen und hörte das Knistern der Tropfen in meinem Haar, drehte den Wasserhahn zu, sah die letzten Wölkchen Shampoo im Abfluss verschwinden, stieg aus der Dusche und hinterließ eine Wasserspur im Bad, putzte mir die Zähne, zog mich an, föhnte meine Haare, tuschte meine Wimpern, zog Mantel und Schuhe an, öffnete noch einmal leise die Tür zum Schlafzimmer und flüsterte. “Schlaf noch schön.” Ich gab dir einen Kuss auf die Wange, warf im Flur einen Blick in den Spiegel, machte das Licht aus und ging.

Jetzt ist es zehn vor sechs, es regnet, ein warmer Wind hat in der Nacht die letzten Schneereste zu Wasser verwandelt. Das Wasser rinnt die Straße entlang. Ich stelle mich unters Dach des Wartehäuschens. Hinter der Bushaltestelle ist eine Kneipe mit großen Fenstern, die Kneipe ist immer geöffnet, hinter den Fenstern leuchtet immer ein Licht und an diesem Montag Morgen sitzt hinter einem der Fenster eine Frau. Vor ihr steht ein Bier, sie schaut aus dem Fenster und ich frage mich, wie das wohl wäre, mich mit ihrem Blick zu sehen, mit diesen Augen, die zwanzig Jahre mehr gesehen haben als meine Augen bis jetzt:

Der Mantel zu rot, die Absätze zu hoch, die Haare regennass, der Blick wintermüde, so sähe ich mich dastehen, als ob sie wartet, auf einen Bus, der schon lange abgefahren ist und niemals wiederkommen wird. Ich sähe eine schwere Tasche, vielleicht mit Kleidern, mit Unterlagen für eine Arbeit, vielleicht mit einem Leben, ich wüsste es nicht, denn woher soll man wissen, was jemand mit sich trägt, nur weil er Gepäck dabei hat.

Mein Ich in zwanzig Jahren ginge auf die fünfzig zu. Mein jetziges Ich geht auf nichts zu, noch nicht einmal auf ein bestimmtes Alter. Ich weiß nicht, was ich mir raten würde. In zwanzig Jahren. Vielleicht würde ich mir sagen, dass man das, was man hat, festhalten muss, selbst wenn es an manchen Tagen so schwer scheint, dass man es kaum tragen kann. Dass manche Chancen nur einmal kommen und danach nie wieder, dass sich alles retten lässt, wenn man es nur will. Und ich würde mich fragen: willst du? Vielleicht würde ich mich auch nicht anhören wie ein Philosophiebuch von Precht und auch nicht wie der erste Platz der Spiegel-Bestsellerliste. Vielleicht würde ich mir einfach vorwerfen, es nie genug versucht zu haben, mich nicht angestrengt zu haben. Leichtfertig gewesen zu sein, mit den Plänen, die ich einst hatte.

Vielleicht, in zwanzig Jahren, säße ich gar nicht hier. Vielleicht lebte ich in der Stadt meiner Träume, vielleicht mit der Liebe dieses Lebens, vielleicht mit Dir. Vielleicht weiß ich dann, dass Du doch dieser verdammte Prinz auf diesem verdammten Gaul warst. Vielleicht bist Du es dann noch. Vielleicht. Vielleicht würde ich auch noch einen Schluck von meinem Bier nehmen, die verdammte Kreativwirtschaft verfluchen (meine Stimme wäre sehr tief, dann) und die nächste Seite der BILD aufschlagen. Vielleicht wäre ich einfach verbittert und würde nichts mehr sagen.

Vielleicht. Vielleicht. Vielleicht. Wenn das Leben eine Autobahn ist, ist Vielleicht die Standspur.

Ein Auto hupt, ich öffne die Augen, blinzle in die Halbnacht. Das Licht in der Kneipe ist aus, die Frau verschwunden. Die zehn Minuten sind vorbei, auf den nassen Straßen spiegeln sich die Lichter der Autos. Die Straßenlaternen gehen aus, gleich öffnet der Supermarkt nebenan.

Ein Radfahrer fährt vorbei, er hält einen schwarzen Regenschirm über seinen Kopf.  Manchmal wünschte ich, ich wäre ein Schirm. Gut gegen Sonne, gut gegen Regen, gut gegen Schneesturm, gut gegen achtzig Arten Wind. Was ich jetzt bin, ist am Ende der Straße, dort, wo schon der Bus zu sehen ist. Gleich werde ich eine Entscheidung treffen und der Tag wird beginnen. Der Bus hält an und ich sage Nein zu Vielleicht. Ich sage Ja zu Ja.

Ich denke noch einmal an dich. Und ich weiß, dass du schläfst.

Gute Nacht, gute Nacht, gute Nacht.

By L.

I walk fast.

2 comments

  1. ich wüsste es nicht, denn woher soll man wissen, was jemand mit sich trägt, nur weil er Gepäck dabei hat.

    Spricht mir aus dem Herzen. Deine Spekulationen uebers “Vielleicht” erinnert mich dann aber ein bisschen zu sehr an die Marlboro-Werbung. Ich glaube nicht, dass “Vielleicht” die Standspur ist. Ich weiss nicht, was es stattdessen ist – Aber das ist es nicht.

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