Friedrichstraße 145

Ein neues Kapitel, ein Brennen in den Augen, ein neuer Schmerz. Seit Stunden sitze ich auf diesem Stuhl aus Metall, eine Ausgeburt der Sitzmöbelhölle, es war kein anderer Platz mehr frei, als ich hier ankam, um in einem Buch zu ertrinken, nun sitze ich hier und mein Rücken dankt es mir. Ich rücke näher an den Tisch heran, Rücken gerade, Kinn nach oben, mein Blick fällt nach draußen. Auf der Bank vor dem Fenster steht ein Blumenstrauß, ein einzelner Straßenbahnwagen fährt vorbei, er verschwindet hinter der Straßenecke.  Ich schließe die Augen, lege meine Hand darüber, als wollte ich in die Ferne sehen, dabei ist fern hier nur fünf Meter weit und ein Buswartehäuschen. Manchmal habe ich mich gefragt, was wir sehen würden, könnten die Innenseiten unserer Augenlider unsere Gedanken reflektieren. Die Kaffeemaschine zischt, ich öffne meine Augen wieder, sehen kann ich doch nur draußen, dort laufen Passanten mit dunklen Hüten und verwehten Frisuren vorbei. Es weht ein wilder Wind heute, Jacken fliegen, scheinen ihren Besitzern abhanden kommen zu wollen. Dunkle Wolken ziehen auf, alle laufen immer schneller, dabei wird man doch nur nasser, wenn man durch den Regen rennt, die Buntheit der Jacken verschwimmt zu einer einzigen flüssigen Farbe, ich frage mich, was passierte, wenn er jetzt da draußen vorbeiliefe.

Vielleicht würde er bemerken, dass ich hier sitze. Vielleicht würde er die Hand heben, lächeln, zur Türe hereinkommen, seine Tasche auf einen Stuhl stellen. Sich entschuldigen, dass er keine Zeit hat, so, als seien wir verabredet. Ich würde sagen das macht nichts und auf die leere Kaffeetasse deuten, ich wollte eh bald gehen, es ist nur noch der Keks übrig, und mich an einem Lachen versuchen. Er wüsste nicht, ich wüsste nicht, ob wir uns küssen sollten, also würden wir uns umarmen, und einander dabei doch nur ungeschickt umfassen, und niemand würde bemerken, dass unsere Hände sich kennen. Dann hinge da ein irritierter Blick über das, was keiner weiß, ein Wort übers Wetter, ein alles ist gut, ein Kuss auf die Wange, er würde seine Tasche greifen und gehen. Auf die Wange, wie seltsam, würde ich denken, und mit dem Fallen der Türe ins Schloss würde sich die Erinnerung an sein kurzes Hiersein in einem Klackern auflösen.

Das Auge sieht, was es sehen will, und die Füße gehen dorthin, wo sie sein wollen. Er würde wohl einfach nur weitergehen und nichts bemerken.

In meinem Leben gibt es einen seltsamen Zufall. Die Namen aller Männer, die ich je geliebt habe, hatten sechs Buchstaben. Der, den ich jetzt liebe, dessen Name hat neun, und nun sitze ich da, starre immer noch auf die Türe, durch die längst andere gegangen sind, und überlege, ob ich genug für ihn wäre. Genug von dem, was er braucht, genug von dem, was er sucht. Ob ich genug von dem Leben wäre, auf das er wartet.

Das Hinterhältige am Leben ist: Um den Hals trägt es den Schlüssel zu dem Keller, in dem die Erfüllung aller Sehnsucht liegt. Und je mehr man etwas will, umso schneller, umso weiter läuft es davon. Doch sobald man alles aufgegeben, allem abgeschworen hat und überhaupt nichts mehr will, dann steht es vor einem, dieses Leben, baut ein Buffet auf und fragt, ob man zuerst von den Vorspeisen, den Hauptgerichten oder den Desserts probieren möchte. Und dann will man sich nur noch ans Tischende stellen, mit einem großen Ruck das Tischtuch herunterziehen und allen zeigen, dass all die Freundschaft, Liebe, das Glück doch nur Fertiggerichte für die Mikrowelle sind, auf einer billigen weißen Wachstischdecke und einer Bierbank. Aber das Leben grinst so nicht, mein Freund. Also baut man sich auf, Bauch raus, Brust rein, stemmt die Arme in die Seiten und brüllt: Ich! Habe! Keinen! Hunger! Mehr!

Ein Auto hupt. Draußen, im Regen. Ich wische die Buffetidee mit der Handfläche vom Tisch und sehe der Sonne beim Untergehen zu. Manchmal wüsste ich gerne, ob ich ihn überhaupt wiedersehen will. Bestimmt, in zehn Jahren vielleicht, irgendeine zufällige Begegnung an der Kreuzung vor seinem Haus, ein Kind an seiner Hand, ein kleiner, braunhaariger Junge, der seine Nase hat. Kein Kind an meiner Hand, vielleicht aber ein blondes Meerschweinchen oder ein verwuschelter Hund.

Träfen wir uns jetzt wieder, könnte ich ihn ansehen, mit ihm reden, ihm Kaffee kochen. Doch meine Verliebtheit für ihn hat eine Mauer um mich gebaut und meine Eifersucht hat Stacheldraht drum herum gezogen. Meine Neugier hat die Wände mit Kanonen beschossen, meine Sehnsucht einen Stift gekauft und Gedichte darauf geschrieben. Und jetzt? Jetzt kauert meine Traurigkeit am Fuß der Mauer. Und kratzt mit dem Stift Rillen in den Beton. Auf dem Weg durch die Monate habe ich meine Unbefangenheit verloren, die Zeit des Gedankenlosen ging zu schnell vorbei. Die Zeit des Bedenkens hatte begonnen, als ich neben ihm lag und er ein Foto von dem Stuck an der Zimmerdecke machte. Der Moment, als die Kamera leise klickte, da war es, als ich begriff, dass ich es festhalten will. Es war auch der Moment, in dem ich begriff, dass das nicht geht. Weil ich es nicht versuchen konnte, weil ich so müde war, wie ich immer noch müde bin. Müde des wochenlangen Hin und Hers, des Sehens und Nichtsehens, des Redens zwischen den Zeilen und der Stille der Buchstaben. Müde des Begehrens und Vermissens, müde des Selbstschutzes und müde des Aufgebens. Und ich bin müde des Gestehens. Dieses Sitzens in einem Café, einer Bar, es ist gleich, müde des ich muss dir etwas sagen, müde des Herzinfarkts vor der Reaktion. Egal wie sie ist, es ist immer ein kleiner Herzinfarkt. Und egal, wie schön danach alles sein mag, es gibt immer etwas, das stirbt. Und sei es nur ein Leben als Single.

Ich kann ihn nicht wiedersehen. Nicht jetzt. Er hat mich zerbrechlich gemacht, und ich habe seitdem viel investiert. Stets trage ich ein Fernglas bei mir, um ihm schon von Weitem ausweichen zu können. Ich kleide mich in Luftpolsterfolie, umwickle mich mit Klebeband, darauf steht FRAGILE, und nur das Klebeband weiß, wie ich darunter wirklich bin. Manchmal hatte ich gehofft. Die Hoffnung sagte, er würde alles bemerken, die Anzeichen verstehen: Dass ich auf Nachrichten nur spät antwortete, wortkarger war, Treffen leichtfertig absagte, um ihm nicht zu begegnen. Ich nannte das Selbstschutz, und ich hoffte, er würde es bemerken. Natürlich merkte er es nicht. Der Selbstschutz war wie unsere Hände, deren Bekanntschaft niemandem auffällt. Weil niemand anderes weiß, wie fremd sie sich einmal waren.

Ich betrachte kurz die leere Kaffeetasse. Dann esse ich den Keks und er verklebt meinen Mund mit Schokolade. Der Reißverschluss meiner Jacke klemmt, ich packe mein Buch ein, wünsche dem Mann hinter dem Tresen einen schönen Abend, öffne die Tür, gehe die drei Stufen auf die Straße hinunter, laufe zur Ampel und warte.

Auf der anderen Seite steht er.

By L.

I walk fast.

5 comments

  1. Friedrichstraße. Ein Erledigungsort, Bücher, Kleidung, Schokolade. Kein Grund zu bleiben, kein Ort zum Verweilen.

    Alles gefunden, Checkliste abgearbeitet. Nur weg. Laufen oder umsteigen? Ein Café. Hier? Einladend. Eine Silhouette im Halbdunkel, einst vertraut, jetzt nur noch eine vage Erinnerung. Sie?

    Sie hatte den Kontakt versanden lassen. Zuerst unmerklich, keine Zeit, bald, Lass Uns Mal, bei Gelegenheit. So viel zu tun, irgendwas ist ja immer. Immer spätere Antworten, immer kärgere Antworten, zuletzt gar keine Antworten. Er hatte es bemerkt, irgendwann, viel zu spät. Take a hint. War er zu nahe gekommen, hatte zu viel gewollt? Aus Alleinschlafensfrust war Nichtsehensfrust geworden.

    Ist sie das? Weitergehen, runterschlucken, so tun als wäre nichts. Sie will ihn nicht sehen, er will ihr nicht auf die Nerven gehen. Wo bleibt die Bahn?

  2. ein ort und der moment dazu. eine kleine hinweistafel auf diese story wird wohl bald im fussboden eingelassen werden (in form eiens sterns).

  3. Keine Ahnung, wie du das machst, aber du schreibst so wahrhaftig, berührst so tief.
    Ganz großes Kompliment. Danke, dass du andere an deiner SchreibKUNST teilhaben lässt.

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